
August: Meinem Gott gehört die Welt – EG 408
Auslegung von Reinhard Ellsel
Der Sonntag nach der Beerdigung. Die Angehörigen sitzen im Gemeindegottesdienst. Da wird der Name des Verstorbenen verlesen, wo er gewohnt hat, wie alt er geworden ist. Der Schmerz ist wieder da: „Das war mein Mann!“ – „Das war mein Vater!“ – „Wie soll das Leben jetzt weiter gehen?“
Der Pastor spricht die Worte: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“ (Römer 14,8)
Schwere Worte sind das. Paulus hat sie an die Gemeinde in Rom geschrieben. Sie klingen wichtig.
Jedoch, um was geht es eigentlich in diesen Worten:
„Wir leben oder sterben, wir gehören dem Herrn“
?
Inwiefern findet sich hier ein Trost für die Angehörigen? Warum machen gerade diese Worte Mut zum Leben – wenn die Frage da ist:
„Wohin gehöre ich, da mir nun alles zerbrochen ist? Wem gehöre ich, da ich nun alleine bin?“
Der Dichter Arno Pötzsch hat das Lied geschrieben
„Meinem Gott gehört die Welt“
. Es ist ein Kinderlied, das man als seine Auslegung der Paulusworte betrachten kann:
„Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Darum: Wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“
Arno Pötzsch sagt es in der letzten Strophe seines Liedes so:
„Leb ich, Gott, bist du bei mir, / sterb ich, bleib ich auch bei dir, und im Leben und im Tod / bin ich dein, du lieber Gott.“
(EG 408)
Pötzsch versteht es in seinem Lied, diese erstaunliche Aussage des Paulus, dass wir immer und ewig zu Gott gehören, in anschaulicher Weise auszudrücken – so dass es sogar Kinder verstehen können. Und auch uns stärkt er damit das Vertrauen zu Gott: Ich gehöre zu dem, dem die ganze Welt gehört.
EG 408,1-6
1. Meinem Gott gehört die Welt,
meinem Gott das Himmelszelt,
ihm gehört der Raum, die Zeit,
sein ist auch die Ewigkeit.
2. Und sein eigen bin auch ich.
Gottes Hände halten mich
gleich dem Sternlein in der Bahn;
keins fällt je aus Gottes Plan.
3. Wo ich bin, hält Gott die Wacht,
führt und schirmt mich Tag und Nacht;
über Bitten und Verstehn
muss sein Wille mir geschehn.
4. Täglich gibt er mir das Brot,
täglich hilft er in der Not,
täglich schenkt er seine Huld
und vergibt mir meine Schuld.
5. Lieber Gott, du bist so groß,
und ich lieg in deinem Schoß
wie im Mutterschoß ein Kind;
Liebe deckt und birgt mich lind.
6. Leb ich, Gott, bist du bei mir,
sterb ich, bleib ich auch bei dir,
und im Leben und im Tod
bin ich dein, du lieber Gott.
Arno Pötzsch hat dieses Kinderlied 1934 geschrieben; für seine Tochter Katrin, die damals drei Jahre alt war.
Vertrauensvoll schreibt Pötzsch von
„meinem Gott“
;
dass Gott die Welt geschaffen hat und auch mich;
dass Gott auf mich aufpasst und mir täglich hilft und das schenkt,
was ich zum Leben brauche.
In den letzten beiden Strophen spricht Pötzsch den allmächtigen Gott selbst an und nennt ihn mit kindlichem Vertrauen
„lieber Gott“
.
Einfach und schnörkellos, anschaulich und konkret ist die Sprache dieses Liedes. Ich kenne es seit Kindheitstagen. Mit der eingängigen Melodie von Christian Lahusen habe ich es wohl im Kindergottes-dienst oder in der Grundschule gelernt. Und noch heute singe ich es gerne. Auch in Krisenzeiten hat sich das Lied bei mir bewährt; dann wenn ich einen Halt suchte, weil ich selbst nicht weiter wusste. Das Lied weist mich auf den hin, dem die ganze Welt gehört – und auch ich. Und dieser Gott meint es gut mit mir.
Ich schätze an diesem einfachen Lied seinen theologischen Tiefgang. Es ist kein Wunder, dass ausgerechnet ein Kinderlied solch einen Tiefgang hat. Immer wieder ist nämlich festgestellt worden, dass Kinder die besten Theologen sind. Sie sind offen und verständig gegenüber den grundsätzlichen Fragen des Lebens:
Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Wer passt auf mich auf? Wenn ein Kind diese Fragen geklärt hat, dann kann es fröhlich leben und abends ruhig einschlafen.
Man könnte meinen, dass jemand, der solch ein vertrauensvolles Lied schreibt, selbst felsenfest im Glauben steht und keine Zweifel kennt. Doch bei Arno Pötzsch war das lange Zeit anders. Zwar stand er, als er dieses Lied 1934 gedichtet hat, kurz vor dem Abschluss seines Theologiestudiums in Leipzig. Aber der am 23. November 1900 geborene Pötzsch hat sich erst verhältnismäßig spät dazu entschlossen, Evangelische Theologie zu studieren. Rückblickend sagt er von sich:
„Freilich erst im dreißigsten Lebensjahr gingen mir die Augen dafür auf, dass man auch heute, im zwanzigsten Jahrhundert,
als ganz moderner, weltoffener Mensch in Wahrheit ein Christ sein und mit gutem Gewissen auf dem Boden der Kirche stehen kann.“
Der sensible und tief schürfende Dichter war als junger Mann in eine schwere Lebenskrise geraten. Es gehört, wie er bekennt, zu den
„gnädigen Führungen in meinem Leben“
, dass er in dieser Zeit der Lebenskrise Verbindung zur Brüdergemeine in Herrnhut bekommt.
Dass er viele Jahre später sogar Theologie studiert, um Pfarrer zu werden, ist für ihn ein weiteres Wunder. Er schreibt:
„Von mir aus hätte ich diesen Schritt nicht tun können, da die alten religiösen Fragen und Zweifel noch immer unbeantwortet waren. Oft war ich versucht, aus dem Frieden der frommen (Herrnhuter) Gemeinde zu flüchten, in der als ein Fremder und Zweifler zu leben mir eine Qual war. Ja, ich war versucht, mit der Kirche überhaupt zu brechen. Obgleich mich religiöse und theologische Fragen - und die sozialen sind ihnen ja überaus verwandt - unausgesetzt aufs tiefste bedrängten und erschüttert haben, durfte ich es doch nicht wagen, kirchliche Arbeit zu tun. Und doch bin ich dann diesen Weg gegangen, weil ich ihn gehen musste.“
Gerade weil Arno Pötzsch in seiner Jugendzeit durch starke Glaubenszweifel hindurch gegangen ist, konnte er später für viele ein glaubwürdiger Seelsorger sein – nicht zuletzt durch seine Lieder und Gedichte.
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Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
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Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
Dem Kinderlied „Meinem Gott gehört die Welt“
merkt man auf den ersten Blick nicht an, durch welche Tiefen sein Dichter hindurch gehen musste. Und doch hat dieses Lied so viel Tiefgang, dass es uns in den Tiefen und in den dunklen Stunden des Lebens trösten und aufrichten kann.
Auch wenn ich Gott und die Welt nicht mehr verstehe, darf ich im kindlichen Vertrauen an Gottes guter Führung für mein Leben festhalten:
„Und sein eigen bin auch ich./ Gottes Hände halten mich gleich dem Sternlein in der Bahn; / keins fällt je aus Gottes Plan.“
In diesem schlichten Kinderlied sind alle wesentlichen Themen des Lyrikers Arno Pötzsch enthalten: Die Größe und die Treue Gottes, Gottes gute Führungen, auch wenn wir sie oft nicht verstehen, unser Schuldig-Werden und Gottes Gnade, die Schöpfung und das tägliche Brot.
„Lieber Gott, du bist so groß“, staunt Pötzsch in einer Strophe. Und was ist das erst für ein Wunder, dass ich kleiner Mensch bei diesem allmächtigen Gott geborgen sein darf „wie im Mutterschoß ein Kind.“ Und dass das stimmt: „Liebe deckt und birgt mich lind.“
Die Menschenfreundlichkeit Gottes: Arno Pötzsch hat an diesem Wunder sein Leben lang herumbuchstabiert.
Lange hatte er gesucht, gefragt und gezweifelt. Doch dann hatte er verstanden, dass Gott uns in Jesus Christus ganz nahe gekommen ist. Wie unbegreiflich groß und fern der „liebe Gott“
letztlich ist, das drückt er in seinem Gedicht „Der Unfassbare“ aus:
Wir können dich nicht fassen.
Du, Gott, bist viel zu groß.
Wir müssen uns dir lassen
mit unserm Menschenlos.
Wir gleichen Tauben, Blinden,
ganz gleich, wer einer sei;
wir wolln dich suchen, finden –
und tasten doch vorbei.
Und manchmal scheint`s, als streife
uns deines Mantels Saum,
doch wie auch einer greife –
er tastet leeren Raum.
Und was auch einer sage,
dich, Gott, dich sagt er nicht.
Wir alle sind nur Frage,
die sich ins Dunkle spricht.
Wir können dich nicht fassen,
bist du doch viel zu groß,
nur dir, Gott, dir uns lassen
mit unserm Menschenlos.
Wir können das Geheimnis des verborgenen Gottes nicht enthüllen. Aber wir können in den Fußspuren Jesu gehen und dabei mit einem kindlichen Herzen verstehen: Der große Gott ist der
„liebe Gott“
. 1949, so erfahren wir aus unserem Gesangbuch, hat Arno Pötzsch das Kinderlied noch einmal bearbeitet
–
wohl, weil es in einem größeren Rahmen veröffentlicht werden sollte.
15 Jahre sind seit dem ersten Schreiben des Liedes vergangen. Pötzsch war in der Zwischenzeit Pfarrer im Sächsischen Rochlitz, dann Marinepfarrer in Cuxhaven. Den größten Teil des Zweiten Weltkrieges und seine Schrecken erlebte er als Marineoberpfarrer in den Niederlanden.
Um die zweihundert Männer, die von den Nazis zum Tode verurteilt worden waren, hat er in dieser Zeit begleitet.
Nach dem Krieg wachte er nachts oft aus Alpträumen auf, weil ihn die Schreie der Verurteilten verfolgten. Mit den Hinterbliebenen stand er im Schriftwechsel. Pötzsch war inzwischen Vater von vier Töchtern.
Selbst am Rande der Kraft betreute er wieder in Cuxhaven als Seelsorger zunächst die gefährliche Arbeit auf den Minenräumbooten. Danach leitete er neben dem Pfarramt außerdem das Evangelische Hilfswerk Cuxhaven und bemühte sich um soziale Randsiedler und Flüchtlinge.
Unermessliche Leiden hatte er mitbekommen, schreckliche Verfehlungen von Menschen, aber immer wieder auch Tapferkeit und Zivilcourage im Kleinen.
Nach all diesen Erfahrungen mag er sich gefragt haben, ob sein Kinderlied noch stimmte.
„Täglich gibt er mir das Brot, täglich hilft er in der Not“
– Unzählig viele Menschen waren auf der Flucht gestorben, manche verhungert. Gehörte Gott tatsächlich diese Welt? Oder hatten nicht längst andere Mächte das Sagen? In Japan waren die ersten Atombomben gefallen. Der „kalte Krieg“ zwischen den so genannten „Siegermächten“ drohte. Allenthalben wurde über eine Remilitarisierung Deutschlands diskutiert.
Dies alles nahm Arno Pötzsch mit seinem wachen Geist und sensiblen Gemüt wahr. Und gerade deshalb veröffentlichte er sein Kinderlied als ein Bekenntnis:
„Meinem Gott gehört die Welt, / meinem Gott das Himmelszelt,
ihm gehört der Raum, die Zeit, / sein ist auch die Ewigkeit.“
Dieser Gott, der Vater Jesu Christi, hatte ihn getragen durch viele Anfechtungen und Nöte hindurch. Dieser einzige und wahre Gott gab ihm auch die Kraft, gegen die Dunkelheiten und Dämonen dieser Welt anzugehen. Diesem Gott konnte er sich im kindlichen Geist blind anvertrauen. Diesen Gott sollten auch andere durch sein Lied kennen lernen – gerade die Kinder.
Und auch wir sind dazu eingeladen, in diesem Vertrauen zu Gott unser Leben mit seinen Höhen und Tiefen zu gestalten:
„im Leben und im Tod / bin ich dein, du lieber Gott.“
Oder wie der Apostel Paulus es sagt:
„Wir leben oder sterben, wir gehören dem Herrn.“
Amen.