
Juli: Der Mond ist aufgegangen – EG 482
Auslegung von Reinhard Ellsel
„Der Mond ist aufgegangen“ – ein Lied für den Abend und eines der bekanntesten Volks- und Kirchenlieder.
Matthias Claudius hat das Gedicht 1778 geschrieben – und zwar auf das Reimschema von „Nun ruhen alle Wälder“. Und auch vom Inhalt her hat sich Claudius von diesem Abendlied seines Vorbilds Paul Gerhardt inspirieren lassen. Johann Schulz hat dem Lied von Claudius dann seine eigene unverwechselbare Melodie gegeben: 1790 – zwölf Jahre nach Entstehung des Liedtextes. Und so hat „Der Mond ist aufgegangen“ noch heute seinen festen Platz – am Bett eines Kindes oder leise gesummt in der Nacht, wenn man selbst nicht schlafen kann, als beliebtes Abendlied in christlichen Kreisen oder als Schlusslied bei den Konzerten von Herbert Grönemeyer.
Die erste Strophe kennen viele auswendig:
EG 482,1
1. Der Mond ist aufgegangen,
die goldnen Sternlein prangen
am Himmel hell und klar.
Der Wald steht schwarz und schweiget,
und aus den Wiesen steiget
der weiße Nebel wunderbar.
Matthias Claudius schaut auf den Mond. Der ist ein Sinnbild für das geheimnisvolle Leben; für das Leben, das uns oft auch ein Rätsel ist. In der Nacht muss man genau hinsehen. Ich konzentriere mich auf das Wesentliche. Welch ein Gegensatz zum Lärm des Alltags! Tagsüber sind da: Stimmen und Geräusche. Informationen und Schlagzeilen. Bilanzen und Prognosen.
Bei so viel Lärm: Wie soll da das Urvertrauen ins Dasein wachsen? In der Fülle der Worte überhöre ich so leicht das eine Wort, das Gott mir ins Ohr flüstert. In der Fülle der Aufgaben übersehe ich häufig das Wichtige. Gut, wenn ich dann am Abend zur Ruhe komme und einer sagt: Keine Angst! Alles wird gut!
EG 482,2
2. Wie ist die Welt so stille
und in der Dämmrung Hülle
so traulich und so hold
als eine stille Kammer,
wo ihr des Tages Jammer
verschlafen und vergessen sollt.
Zur Zeit von Matthias Claudius war sie am Abend noch still, die Welt. Sie ist wie eine samtene Hülle, ein Ruheraum, in den ich mich zurückziehen kann. Laut und breit haben am Tag die Sorgen und die kleinen und großen Katastrophen meine Gedanken beherrscht. Am Abend aber: Raus damit! „Verschlaf und vergiss“ „des Tages Jammer“ , schreibt Claudius.
Sein persönlicher
„Jammer“
hatte einen Namen: Viele Kinder, aber nur ein leerer Geldbeutel. Als Journalist und Theologe geht er mit offenen Augen durch die Welt. Ein Jahr bevor sein Abendlied entsteht,
bricht ein Krieg aus und er schreibt das Gedicht:
S’ ist Krieg! s’ ist Krieg!
O Gottes Engel wehre,
Und rede du darin!
S` ist leider Krieg
–
und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!
Dennoch glaubt Claudius, dass Gottes gute Welt trotzdem da ist. Verborgen, manchmal sogar von Kriegsgeschrei überdröhnt. Für Gottes gute Welt will er Augen und Ohren haben.
EG 482,3
3. Seht ihr den Mond dort stehen?
Er ist nur halb zu sehen
und ist doch rund und schön.
So sind wohl manche Sachen,
die wir getrost belachen,
weil unsre Augen sie nicht sehn.
Das Leben ist mehr, als ich sehe.
Denn das, was ich sehe, ist nur die halbe Wahrheit.
Der Mond steht halb am Himmel. Wir sehen nur seine Vorderseite,
die abnimmt oder zunimmt. Aber jeder weiß heute, dass der Mond tatsächlich eine Kugel ist, ganz und rund und schön. Als Erdenbürger können wir es nur nicht sehen.
Matthias Claudius zupft mich am Ärmel: „Bedenke, dass du immer nur Teile der Wirklichkeit wahrnimmst, wie den halben Mond. Sei also vorsichtig in deinem Urteil und sei barmherzig mit den anderen Erdenbürgern. In jedem Menschen steckt auch etwas Geheimnisvolles, Unsichtbares.“
So spricht Matthias Claudius von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Zeit und Ewigkeit. Vom Rhythmus des Lebens. Ich erlebe das selbst immer wieder. Oft kenne ich nicht die ganze Wahrheit, wenn ich eine Entscheidung treffen muss. Wenn ich jemandem begegne, weiß ich nicht: Was treibt ihn an? Was ist seine Motivation, seine Angst, seine Leidenschaft. Manchmal gerate ich in Streit und verstehe nicht, warum jemand so heftig reagiert. Vielleicht hat er gerade eine schlechte Nachricht zu verarbeiten. Schlägt sich mit einer Erkrankung herum. Oder einer Enttäuschung. Wie auch immer: Ich sehe nur einen Teil. Das prägt jede Beziehung, auch Freundschaften oder Familien. Jeder Mensch ist unendlich viel mehr, als du oder ich sehen kann.
Manchmal erschließt Behutsamkeit und Liebe dieses Verborgene. Das Abendlied übt mit mir ein, behutsam mit dem Leben und den Menschen umzugehen; dem Leben das Geheimnisvolle zu lassen. Ich sehe nicht alles, ich kenne nicht alles.
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Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
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Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
Auch Gott kenne ich nicht ganz und seine Wahrheit. Aber wie die Liebe Vertrauen wagt, so wagen Christen den Glauben an Gott.
EG 482,4
4. Wir stolzen Menschenkinder
sind eitel arme Sünder
und wissen gar nicht viel.
Wir spinnen Luftgespinste
und suchen viele Künste
und kommen weiter von dem Ziel.
Ich strenge mich an. Will alles gut machen. Internet und Handys eröffnen uns dabei unendlich viele Möglichkeiten – zu jeder Zeit, an jedem Ort. Wir sind scheinbar viel weiter als zu Matthias Claudius' Zeiten. Und wir wissen und können tatsächlich mehr als damals.
100 Jahre nach Matthias Claudius' Mondgedicht hat Jules Verne eine Mondreise in einem Roman beschrieben. Das war schon damals „Science fiction“! Und wieder 100 Jahre später hat Neil Armstrong als erster Mensch tatsächlich den Mond betreten.
Doch, ist die Welt seitdem besser geworden? Gehen wir Menschen friedlicher miteinander um? Ist der Hunger besiegt? Geht es gerechter zu? Selbstkritische Fragen, die uns in Zeiten von Seuchen, Terror und Klimawandel beschäftigen.
Und was wird nicht alles unternommen, damit das Leben gut wird. Viele kaufen sich das Leben schön. Doch was nützt es einem Kind, wenn es alle Spielsachen hat, aber keinen Menschen, der ihm ein Lied vorsingt? Was nützt es der Welt, wenn wir ins All fliegen, aber unseren Heimatplaneten zerstören? Was nützt alles Lernen und Forschen, wenn wir nicht besser verstehen, wer wir sind, woher wir kommen, wohin wir gehen?
Wir haben keinen Grund, „stolz“ zu sein, meint Matthias Claudius. Wir sind – „Sünder“ . Getrennt von Gott, getrennt vom richtigen Leben. Darunter leiden wir „und suchen viele Künste“. Doch was nützt es? Wir „kommen weiter von dem Ziel.“ Aber was ist das Ziel?
EG 482,5
5. Gott, lass dein Heil uns schauen,
auf nichts Vergänglichs trauen,
nicht Eitelkeit uns freun;
lass uns einfältig werden
und vor dir hier auf Erden
wie Kinder fromm und fröhlich sein.
Gottes Heil ist das Ziel – schon hier und heute. Gottes Heil – hier in unserem Leben wird es sichtbar. Und es weist zugleich darüber hinaus.
In den ersten Strophen war das Mondlied noch eine Beschreibung. Jetzt wird es zu einem Gebet: „Gott, schenke mir Vertrauen in das, was trägt. Lass mich einfältig wie Kinder leben, wenn es um den Glauben geht.“
Aber, will ich das überhaupt – „wie Kinder fromm und fröhlich sein“ ? Anrührend ist das Bild, ist die Melodie. Doch den ganzen Tag über lebe ich doch lieber anders. Wozu habe ich denn das alles gelernt: Denken, Lesen, Schreiben – Arbeiten, Schaffen, Erfinden – Planen, Analysieren, Verstehen. Ist das alles umsonst? Soll ich das alles vergessen? Was bringt mir diese „Einfalt“?
Vielleicht wird mir gerade am Abend, nach aller Geschäftigkeit klar: Der scharfsinnigste Verstand weckt noch kein wirkliches Verstehen oder gar die Liebe in mir. Nur mit meiner Vernunft und meinem Können allein komme ich nicht weiter. Ich brauche den Glauben, der in die Tiefe der Seele reicht. Ich brauche das Vertrauen darauf, dass Gott die Welt im Innersten zusammenhält. Sonst kann ich am Abend auch kaum loslassen und Einschlafen.
Ja, Gott sei Dank: Es hängt nicht alles von meinem menschlichen Wissen und Können ab. Obwohl es schier unvorstellbar ist: Gott ist Mensch geworden, um mein Leben mit mir zu teilen. Um mir zu helfen. Um mir Halt zu geben. Da kann ich gelassener – „wie Kinder fromm und fröhlich sein“ . Und mich einer Geborgenheit überlassen, die größer ist als ich.
EG 482,6
6. Wollst endlich sonder Grämen
aus dieser Welt uns nehmen
durch einen sanften Tod;
und wenn du uns genommen,
lass uns in` Himmel kommen,
du unser Herr und unser Gott.
Bisher konnte man fast den Eindruck bekommen, dass Claudius nur eine Abendidylle beschreibt. Der Mond und die Welt, Mensch und Religion, humorvoll, schlicht, naiv. Aber er beschreibt keine Idylle. Dazu kannte er Vergänglichkeit und Tod viel zu gut: Geschwister von ihm starben, als er noch ein kleiner Junge war. Sein Heimatort wurde von einer Seuche heimgesucht. Als Student erschütterte ihn der frühe Tod seines Bruders Josias, der in seinen Armen starb. Drei seiner Kinder sterben.
Nicht ohne Grund atmet das Abendlied eine gewisse Melancholie. Aber Claudius verzweifelt nicht gegenüber dem Tod. Im Gegenteil: Der Tod wurde ihm sogar zu einem Lehrmeister für die Lebenskunst. Weil Gott stärker ist als der Tod, hält Claudius dem Tod stand. Er hat keine Panik vor ihm, keine Heidenangst. Im Vertrauen auf Gott sieht er den Tod als den „Freund Hain“ , der ihn eines Tages vom Leben erlösen wird, wenn es unerträglich wird.
Der Abend ist auch ein Bild für den Tod. So wie ich mich im Schlaf bei Gott geborgen fühle, kehre ich am Ende des Lebens heim in Gottes Liebe, die größer ist als alle menschliche Vernunft.
EG 482,7
7. So legt euch denn, ihr Brüder,
in Gottes Namen nieder;
kalt ist der Abendhauch.
Verschon uns, Gott, mit Strafen
und lass uns ruhig schlafen.
Und unsern kranken Nachbarn auch!
Mit dem Schauen hat Matthias Claudius begonnen. Am Anfang blickt er nach oben. Er sieht den Mond, die Nacht, die Sterne am Himmel. Hier kommt er zur Ruhe über allem Tagesjammer. Jetzt schauen seine Augen auf die Nachbarhäuser. Da sind Menschen, die genauso wie er mit dem Leben ringen, um ein wenig Glück kämpfen.
Wir sind nicht einsam und allein. Sondern eine große Gemeinschaft, wenn wir füreinander da sind. Der Glaube ringt nicht um das Glück des Einzelnen, sondern um das Heil der Welt. Niemand darf verloren gehen. Jeder soll eine gute Zukunft haben. Dafür setzen sich Christen ein. Im Gebet und mit der helfenden Tat. Konkret und ohne romantisierende Umwege.
„Der Mond ist aufgegangen“ –
das ist ein gutes Lied.
Ein Lied über den Rhythmus des Lebens; ein Lied über den liebenden Herzschlag Gottes, der alles durchdringt. Und dich und mich gut schlafen lässt.