März: Du meine Seele, singe – EG 302
Auslegung von Reinhard Ellsel
Ist es eigentlich erlaubt, in unserer heutigen Welt Gott dankbare Loblieder zu singen? Verbietet sich das Singen nicht von selbst?
Angesichts der Armut und des Hungers in weiten Teilen unserer Welt;
angesichts des bedrohlichen Klimawandels; angesichts von Krieg und Terror; angesichts von eigener Schwäche und vielleicht gesundheitlicher Einschränkung? Sitzt Gott tatsächlich noch im Regimente, oder hat er uns und diese Welt nicht schon längst sich selbst überlassen?
Wahrscheinlich denkt jetzt mancher: „Ja, warum soll man Gott denn nicht Loblieder singen? Es ist ja ganz bestimmt nicht Gottes Schuld, dass es auf seiner guten Erde oftmals so chaotisch und friedlos zugeht.“ Und so sehe ich es auch.
Ich bin der festen Überzeugung, dass das Lob Gottes angesichts dieser Welt alles andere als überflüssig ist. Der Lobpreis Gottes ist sogar ausgesprochen notwendig. Denn er gibt uns die rechte Ausrichtung und Kraft, um in dieser Welt und unserer Umgebung das Notwendige zu tun.
Darauf weist auch schon der Apostel im Epheserbrief hin. Er schreibt: „Kauft die Zeit aus; denn es ist böse Zeit. Sauft euch nicht voll Wein, woraus ein unordentliches Wesen folgt, sondern lasst euch vom Geist Gottes erfüllen. Ermuntert einander mit Psalmen und geistlichen Liedern, singt und spielt dem Herrn in eurem Herzen.“ (Epheser 5, 16.18.19)
Und der Reformator Martin Luther, von dem die meisten Lieder im Evangelischen Gesangbuch stammen, wusste: „Die Musik ist eine Gabe und Geschenk Gottes, nicht ein Menschengeschenk. So vertreibt sie auch den Teufel und macht die Leute fröhlich; man vergisst dabei allen Zorn, Unkeuschheit, Hoffahrt und andere Laster.“
Der Gesang und die Musik zur Ehre Gottes erfüllt unsere Herzen mit guten und ermutigenden Gedanken. Deshalb hat der Liederdichter Paul Gerhardt gerade im Singen von „Psalmen und geistlichen Liedern“ für sich selbst einen besonders schönen Lebenssinn entdeckt. Paul Gerhardt schreibt einmal:
„Unter allen, die da leben,
hat ein jeder seinen Fleiß
und weiß dessen Frucht zu geben;
doch hat der den größten Preis,
der dem Höchsten Ehre bringt
und von Gottes Namen singt.“
Warum und in welcher Weise ist das Singen zur Ehre Gottes eine Wohltat für gestresste Seelen – angesichts dieser Welt?
Das wollen wir nachvollziehen an einem Lied von Paul Gerhardt, den man auch den „Psalmisten der Christenheit“ genannt hat.
Wir betrachten das Loblied „Du, meine Seele, singe“.
302,1.2
1. Du meine Seele, singe,
wohlauf und singe schön
dem, welchem alle Dinge
zu Dienst und Willen stehn.
Ich will den Herren droben
hier preisen auf der Erd;
ich will ihn herzlich loben,
solang ich leben werd.
2. Wohl dem, der einzig schauet
nach Jakobs Gott und Heil!
Wer dem sich anvertrauet,
der hat das beste Teil,
das höchste Gut erlesen,
den schönsten Schatz geliebt;
sein Herz und ganzes Wesen
bleibt ewig unbetrübt.
Paul Gerhardt hat dieses Lied bald nach Ende des Dreißigjährigen Krieges geschrieben. Dieser verheerende Krieg war auch mit daran Schuld, dass Gerhardt erst 1651 – er ist schon 44 Jahre alt – seine erste Pfarrstelle antreten konnte. Er wird Prediger und Seelsorger in Mittenwalde, einem kleinen Landstädtchen, 20 Kilometer südlich von Berlin, im Spreewald, gelegen.
Es ist eine typische Nachkriegssituation, in der Gerhardt versucht, ein geordnetes Gemeindeleben aufzubauen. Land und Leute sind ausgezehrt, geradezu ausgeblutet, die zerstampften Felder liegen brach, Vieh und Zugtiere fehlen, Hungersnöte und Seuchen breiten sich aus; die Menschen sind geistig verwildert, sittlich verroht und rechtlich verunsichert. Von den einst rund 1.000 Einwohnern ist nur noch ein Viertel am Leben.
Und in dieser Situation soll es helfen, Gott Loblieder zu singen? Ja, natürlich! Wie anders kann Paul Gerhardt denn in der Seelsorge angefochtenen und trauernden Menschen Mut machen? Er darf ja nicht nur bei dem Elend stehen bleiben. Er darf und muss die Elenden hinweisen auf Gottes umfassende Seelsorge und Fürsorge. Und auch er selbst, der Seelsorger, muss immer wieder neu auftanken bei diesem Gott, von dem er weiß: „Wer dem sich anvertrauet, / der hat das beste Teil, / das höchste Gut erlesen, / den schönsten Schatz geliebt; / sein Herz und ganzes Wesen / bleibt ewig unbetrübt.“
Paul Gerhardt war ein tief empfindener Psalmist und kein oberflächlicher Phantast. Ihn ließen die Sorgen und Nöte seiner Mitmenschen nicht unberührt. Vielmehr ging ihm ihr Elend an die Nieren und er nahm seine Aufgabe sehr ernst, gerade in diese Not hinein Trost und Hoffnung zuzusprechen. So schreibt er später einmal: „Ich weiß es nunmehr durch Gottes Gnade, und habe es genugsam erfahren, was für Angst oftmals nur allein die große schwere Arbeit demjenigen Prediger, der sein Amt treulich meinet, mache ...“
Aber gerade, damit ihn all die Arbeit und die Not nicht niederdrücke, spornt er seine gedanklichen Kräfte an und dichtet: „Du, meine Seele, singe, / wohlauf und singe schön“.
Der Seelsorger weiß, dass man auch von sich aus einiges dazu beitragen kann und muss, damit einen die Sorgen nicht über den Kopf wachsen. Von einem klaren Willensakt ist hier in der ersten Strophe zweimal die Rede: „Ich will den Herren droben / hier preisen auf der Erd; / ich will ihn herzlich loben, / solang ich leben werd.“
Dieses Lied bringt eindrücklich das „Dennoch des Glaubens“ zur Sprache. Auch wenn es in dieser Welt und in meinem eigenen Leben manchmal drunter und drüber geht, dennoch! Dennoch halte ich an Gott fest! Dennoch strecke ich mich nach seinen Möglichkeiten aus! Dennoch gebe ich nicht auf! Dennoch versuche ich, nach Gottes guten Maßstäben zu leben! Dennoch!
Die nächsten beiden Strophen weisen mit großem Trotz auf Gottes Reichtum hin, auf seine Macht und Treue. Es ist fast so, als könnten wir Paul Gerhardts rechten Zeigefinger sehen, mit dem er uns ganz entschieden die rechte Denkrichtung zeigt: „Hier sind die starken Kräfte ... Hier sind die treuen Sinnen ...“.
EG 302,3.4
3. Hier sind die starken Kräfte,
die unerschöpfte Macht;
das weisen die Geschäfte,
die seine Hand gemacht:
der Himmel und die Erde,
mit ihrem ganzen Heer,
der Fisch unzähl`ge Herde,
im großen wilden Meer.
4.
Hier sind die treuen Sinnen,
die niemand Unrecht tun,
all denen Gutes gönnen,
die in der Treu beruhn.
Gott hält sein Wort mit Freuden,
und was er spricht, geschicht;
und wer Gewalt muss leiden,
den schützt er im Gericht.
Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
Paul Gerhardt hat etwa 130 geistliche Lieder geschrieben. Darunter sind 27 Lieder, die er mit Worten und Gedanken der Psalmen gedichtet hat. Auch dieses Loblied hat er komplett einem Psalm nachempfunden, dem Psalm 146. So lauten beispielsweise die Verse zwei bis vier in seiner Psalmen-Vorlage: „Wohl, dem dessen Hilfe der Gott Jakobs ist, der seine Hoffnung setzt auf den HERRN, seinen Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, das Meer und alles , was darinnen ist; der Treue hält ewiglich, der Recht schafft denen, die Gewalt leiden.“ (Psalm 146,5-7a)
Der Dichter hat sich also für sein Loblied inspirieren lassen von einem alttestamentlichen Loblied, das viele hundert Jahren zuvor gesungen worden ist, wahrscheinlich in einem Tempelgottesdienst. Das ist bis heute eines der Geheimnisse der gottesdienstlichen Gemeinde, dass wir selbst, denen es manchmal gar nicht nach „Lobe den Herren“ zu Mute ist, durch andere in das Lob Gottes mit hineingenommen werden. Ein Vogel macht den anderen singen. So hat es auch Paul Gerhardt erfahren und auch wir können uns von ihm inspirieren lassen.
Dabei findet das Lob Gottes nicht in einem luftleeren Raum statt, sondern es stecken ganz konkrete Erfahrungen an Behütung und Bewahrung dahinter. Seit Jahrtausenden haben Menschen gute Führungen durch Gott erlebt. Und Menschen, die um uns sind, wissen von Gottes Seelsorge und Fürsorge für ihr Leben zu erzählen.
Und wir? Und Sie und ich? Wenn wir die Verse 5 bis 7 lesen und singen: Ob uns da nicht auch eigene Erfahrungen mit Gott zu Bewusstsein kommen, die unter der Überschrift stehen: „Er weiß viel tausend Weisen, / zu retten aus dem Tod“?
EG 302,5-7
5. Er weiß viel tausend Weisen,
zu retten aus dem Tod,
ernährt und gibet Speisen
zur Zeit der Hungersnot,
macht schöne rote Wangen
oft bei geringem Mahl;
und die da sind gefangen,
die reißt er aus der Qual.
6.
Er ist das Licht der Blinden,
erleuchtet ihr Gesicht,
und die sich schwach befinden,
die stellt er aufgericht`.
Er liebet alle Frommen,
und die ihm günstig sind,
die finden, wenn sie kommen,
an ihm den besten Freund.
7.
Er ist der Fremden Hütte,
die Waisen nimmt er an,
erfüllt der Witwen Bitte,
wird selbst ihr Trost und Mann.
Die aber, die ihn hassen,
bezahlet er mit Grimm,
ihr Haus und wo sie saßen,
das wirft er um und um.
Wie gesagt, dieses Lied ist mit Gedanken und Worten von Psalm 146 gedichtet. Kein Mensch hätte jemals diesen Psalm noch später dieses Lied gesungen, wenn sich hierin nicht Erfahrungen widerspiegeln würden, die Menschen zu allen Zeiten mit dem lebendigen Gott gemacht haben – und zwar schon in ihrem irdischen Leben, hier und jetzt. Manches haben wir, wie gesagt, auch ganz konkret am eigenen Liebe erlebt. Mich spricht besonders die Aussage an: „und die sich schwach befinden, / die stellt er aufgericht`.“
Ich könnte Ihnen jetzt einiges erzählen über meine schwere Asthma-Krankheit als Kind und wie mich körperliche Schwäche noch als Jugendlichen und jungen Erwachsenen immer wieder behindert hat. Andere haben viel Bewahrung während des Zweiten Weltkriegs erfahren, sei es als Soldat, in Gefangenschaft oder auf der Flucht. Andere haben es mit Gottes Hilfe geschafft, mit dem Verlust ihres Ehepartners fertig zu werden.
Vielleicht überrascht uns Gerhardts herbe Gegenüberstellung von „Frommen“ und Gottesverächtern. „Er liebet alle Frommen, / und die ihm günstig sind, die finden, wenn sie kommen, / an ihm den besten Freund. Die aber, die ihn hassen, / bezahlet er mit Grimm, ihr Haus und wo sie saßen, / das wirft er um und um.“
Die Psalmen reden so. Und das ist nicht nur alttestamentlich gedacht. Paul Gerhardt wird diese Erfahrung selbst als Seelsorger immer wieder gemacht haben: Die auf Gott vertrauen, finden auch in schwierigsten Situationen einen Halt.
Aber diejenigen, die sich bewusst von Gott abwenden, sehen sich ganz auf sich allein gestellt; ja, sie verschlimmern ihre Situation und die ihrer Mitmenschen oft genug durch eigenes Fehlverhalten.
Manchem von uns mag diese Wahrheit bitter schmecken. Mir schmeckt sie auch nicht immer. Aber an der Wahrheit ändert das nichts. Gott sieht weiter als wir. Seine Wahrheit ist größer als unsere. Seine Worte und Gebote haben Bestand – auch über dieses Leben hinaus. Deshalb will ich ihm vertrauen und ihm Loblieder singen.
EG 302,8
8. Ach ich bin viel zu wenig,
zu rühmen seinen Ruhm,
der Herr allein ist König,
ich eine welke Blum.
Jedoch weil ich gehöre
gen Zion in sein Zelt,
ist´s billig, dass ich mehre
sein Lob vor aller Welt.
„Jedoch weil ich gehöre / gen Zion in sein Zelt“: kann ich, können Sie das eigentlich mit froher Gewissheit sagen? Gehören wir tatsächlich zu Gott, zu seinem Volk und Eigentum? Mancher mag sich ein wenig zieren und sagen: „Ich bin mir nicht sicher. Ich bemühe mich darum, ein Christ zu sein – aber oft gelingt es mir nicht.“ Das ist sicherlich ehrenwert geantwortet. Aber wir können uns ganz sicher sein. Ja, wir gehören zu Gott. Denn wir sind getauft. Und das gilt – mit allen Rechten. Das gilt, weil Gott das so will.
Verstehen Sie? Niemand von uns würde sagen: „Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein Deutscher bin. Ich bemühe mich darum, ein Deutscher zu sein – aber oft gelingt mir das nicht.“
Ja, wir gehören zu Gott, „gen Zion in sein Zelt“, wir sind getauft. Bei Gott ist unser Zuhause, hier auf der Erde und in Ewigkeit in seinem Reich. Das gibt mir Kraft und Mut für meinen Alltag. Das lässt uns friedlich leben und fröhlich singen.