Mai: Er weckt mich alle Morgen – EG 452
Auslegung von Reinhard Ellsel
Können Sie morgens gut aufstehen? Manchmal lasten ja gleich nach dem Erwachen schwere Gedanken auf dem Gemüt: Werde ich die Herausforderungen heute alle bewältigen können? Sorgenvolle Gedanken können einen geradezu ans Bett fesseln.
Dagegen hat mir hat das Morgenlied „Er weckt mich alle Morgen“ schon oft einen befreienden Blick auf den neuen Tag eröffnet. Deshalb möchte ich nun anhand der Worte von Jochen Klepper mit Ihnen darüber nachdenken, was da eigentlich „an der Dämmrung Pforte“ geschieht, an der Schwelle zum neuen Tag.
EG 452,1
1. Er weckt mich alle Morgen,
er weckt mir selbst das Ohr.
Gott hält sich nicht verborgen,
führt mir den Tag empor,
dass ich mit seinem Worte
begrüß das neue Licht.
Schon an der Dämmrung Pforte
ist er mir nah und spricht.
Das Lied von Klepper öffnet uns den Blick für Gottes wohltuendes Handeln. Am Morgen stehen eben nicht nur die Sorgen mit auf. Vielmehr ist Gott es selbst, der uns einen neuen Tag schenkt und uns mit seiner Treue auch durch diesen Tag begleitet.
Nicht von dem, was wir heute alles tun müssen, singt dieses Lied, sondern von dem, was Gott alles für uns tut: „Er weckt mich alle Morgen, er weckt mir selbst das Ohr“. Mehr noch: „Schon an der Dämmrung Pforte ist er mir nah und spricht.“
Jochen Klepper beginnt den neuen Tag mit dem Hören auf Gottes Wort. Für den Dichter ist das keine lästige Pflichtübung.
Vielmehr hat er schon oft die Erfahrung gemacht, dass Gottes Worte ihm den neuen Tag in ein freundliches Licht gestellt haben.
Durch das Lesen in der Bibel oder in den Losungen hat er erfahren: Der neue Tag ist Gottes Geschenk für mich.
In den Tagebüchern von Jochen Klepper können wir das nachlesen.
So lesen wir zum Beispiel in einer Tagebucheintragung, der Klepper wie immer einen Bibeltext vorangestellt hat:
„12. April 1938 / Dienstag
Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr,
dass ich höre wie ein Jünger. Der Herr hat mir
das Ohr geöffnet; und ich bin nicht ungehorsam und
gehe nicht zurück.
–
Denn ich weiß, dass ich nicht zu
Schanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht.
Jesaja 50,4.5.7.8.
Weicher, glänzender Tag. Meine kleinen Osterbesorgungen für Mutter, Frau und Töchter. In unserem alten Garten in der Seestraße blühen die alten Kirschbäume so schön.
Ich schrieb heute ein Morgenlied über Jesaja 50, die Worte,
die mir den ganzen Tag nicht aus dem Ohr gegangen waren.“
Wie unzählig viele Menschen vor ihm und nach ihm hat Jochen Klepper eine wesentliche Erfahrung gemacht:
Die Worte Gottes sind von einer ganz besonderen Kraft.
Davon singt auch die zweite Strophe:
EG 452,2
2. Er spricht wie an dem Tage,
da er die Welt erschuf.
Da schweigen Angst und Klage;
nichts gilt mehr als sein Ruf.
Das Wort der ew`gen Treue,
die Gott uns Menschen schwört,
erfahre ich aufs neue
so, wie ein Jünger hört.
Jochen Klepper stellt den liebevollen Weckruf Gottes, mit dem er uns einen neuen Tag schenkt, in den Zusammenhang mit der Erschaffung der Welt. So erzählt der erste Schöpfungsbericht:
Gott hat die Welt durch sein Wort erschaffen. Gleich zu Anfang heißt es:
„Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht.
“
(1. Mose 1,3)
Gott spricht. Und es geschieht. Dadurch schenkt Gott Leben.
Gott spricht bis heute und dadurch schenkt er mir heute einen neuen Tag. Jeder Morgen ist für mich so neu wie der erste Morgen der Schöpfung.
Ich empfinde das als eine Entlastung:
Gott schenkt mir jeden Tag. Einzeln.
Ich kann und muss heute nicht mein ganzes Leben auf einmal gestalten. Nicht alle Probleme meines Lebens muss ich heute lösen.
Jeder Tag ist neu. Jeder Tag ist einzigartig.
Jeden Tag empfange ich aus Gottes Hand wie ein neugeborenes Kind.
Am Morgen empfange ich aus Gottes Wort seine Ermutigung
für diesen Tag.
Wer dagegen gleichzeitig seine Vergangenheit und seine Zukunft schultern will, der überlastet sich gnadenlos.
Heute ist der einzige Tag, den ich wirklich gestalten kann.
Ich kann ihn gestalten mit Gottes Hilfe, der mich Morgen für Morgen neu durch sein schöpferisches Wort anspricht.
Klepper sagt es so:
„Das Wort der ew`gen Treue, / die Gott uns Menschen schwört,
erfahre ich aufs neue / so, wie ein Jünger hört.“
Wie macht man das eigentlich: Hören, wie ein Jünger hört?
Eine sprachliche Beobachtung hilft da weiter.
Das Wort
„Jünger“
steht im Alten und im Neuen Testament immer da, wo man genauer mit
„Lernender“
übersetzen könnte.
Der treue Gott lädt uns dazu ein, dass wir am Morgen mit seinem Wort in den Tag starten. Die dritte Strophe singt nun davon, dass wir uns seinen Worten ganz anvertrauen sollen:
EG 452,3
3. Er will, dass ich mich füge.
Ich gehe nicht zurück.
Hab nur in ihm Genüge,
in seinem Wort mein Glück.
Ich werde nicht zuschanden,
wenn ich nur ihn vernehm.
Gott löst mich aus den Banden.
Gott macht mich ihm genehm.
Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
Es ist allerdings gar nicht so leicht, Gottes Stimme herauszuhören;
ihn zu
„vernehmen“
neben den vielen anderen Stimmen,
die Tag für Tag unser Ohr erreichen wollen.
Gott legt es offenbar nicht darauf an, die Geräusche unserer lauten Welt brüllend zu übertönen. Sein Reden ist in der Regel so leise und so behutsam, dass ein Mensch es sehr wohl überhören kann.
Gottes Stimme ist das absolute Gegenteil zu dem, was man heute mit dem Ausdruck
„zudröhnen“
meint. Gottes Worte dröhnen uns nicht zu, sondern sie locken und werben liebevoll. Sie wollen uns das Ohr und die Lebensgeister wecken.
Gottes Worte sind wie die Klänge einer wunderschönen Musik,
deren Reichtum sich uns desto mehr aufschließt, je mehr wir eine innere Stille haben. Leider fehlt uns diese innere Stille oft, auch mir.
Manchmal habe ich sogar die Befürchtung, dass ich etwas verpassen könnte, wenn ich mich für das Wort der Bibel öffne und ihm nachlausche und nachsinne. Vielleicht kennen Sie diese seltsame Furcht auch.
Auch Jochen Klepper hat sich manchmal selbstkritisch gefragt, ob er denn nicht weltfremd sei, wenn er sich so intensiv auf das Wort der Bibel einlässt.
Davon berichtet eine Tagebucheintragung, die er eine Woche nach dem Schreiben des Morgenliedes gemacht hat:
„20. April 1938
Wie oft fürchtete ich, dass ich der Bibel jeden Tag mehr zugestehe, als ich verantworten kann. Und nun sehe ich beglückt, wie man an mehreren Stellen zugleich gerade nach meiner Bibelarbeit fragt:
das ist das Schönste, das mir im Beruf begegnete!“
Es war also richtig, was er eine Woche zuvor gedichtet hatte. Die Verheißung der Bibel hat sich für ihn wieder einmal erfüllt: „Ich werde nicht zuschanden, / wenn ich nur ihn vernehm.“
Jochen Klepper war ein Liebhaber des Wortes Gottes. Hier hat er Kraft und Mut für seinen oft beschwerlichen Alltag gefunden.
Und diese Kraftquelle hat er nicht zuletzt durch seine Lieder vielen seiner Zeitgenossen erschlossen, die selbst mit Ängsten und Sorgen belastet waren.
So schreibt zum Beispiel gegen Ende des Jahres 1939 eine Frau an Klepper:
„Lieber Herr Klepper, verzeihen Sie, dass ich nicht schreiben kann:
`Sehr geehrter --´, obwohl ich Sie gar nicht kenne; ich lebe aber seit einem Jahr so stark mit“
Ihren Gedichten,
„dass ich es Ihnen einmal sagen muss.“
Die Lieder
„geben in den schlichten Worten Unendliches, Unausschöpfbares her an innerem `Wissen´, an Leiderfahrung, an Gebetserfahrung, an Zur-Ruhe-Kommen nach großen Schmerzen.
Ihre Worte gehen so tief, so sehr ins schonungslose Leid, in Qual und Heimweh des Herzens, dass ich manchmal fragen muss, kann das alles wirklich ein Mann geschrieben haben?
Bitte missverstehen Sie mich nicht! Nicht dass ich meine, ein Mann könne nicht so tief fühlen wie eine Frau. Nein, das andere: Kann ein Mann wirklich so zutiefst demütig sein und zugleich so frei? Das hilft so wunderbar.“
EG 452,4.5
4. Er ist mir täglich nahe
und spricht mich selbst gerecht.
Was ich von ihm empfahe,
gibt sonst kein Herr dem Knecht.
Wie wohl hat`s hier der Sklave,
der Herr hält sich bereit,
dass er ihn aus dem Schlafe
zu seinem Dienst geleit.
5. Er will mich früh umhüllen
mit seinem Wort und Licht,
verheißen und erfüllen,
damit mir nichts gebricht;
will vollen Lohn mir zahlen,
fragt nicht, ob ich versag.
Sein Wort will helle strahlen,
wie dunkel auch der Tag.
In der morgendlichen Begegnung mit dem Wort Gottes können wir erfahren:
„Er ist mir täglich nahe / und spricht mich selbst gerecht.“ Vielleicht stolpert mancher darüber, dass in dem Morgenlied vom
„Knecht“ die Rede ist, ja sogar vom
„Sklaven“
.
Das hat damit zu tun, dass Klepper sich mit dem Geschick des alttestamentlichen Gottesknechtes identifiziert.
Auch Klepper weiß sich von Gott gerufen und beauftragt, in der trostlosen Zeit des Nationalsozialismus Gottes Wahrheit zu verkünden und
„mit den Müden zu rechter Zeit zu reden.“
(Jesaja 50,4) Mit den Worten dieses Gottesknechtes hat er sein Morgenlied gedichtet.
Aber eben: Selbst der Knecht, selbst der Sklave hat es bei Gott gut, denn:
„der Herr hält sich bereit, / dass er ihn aus dem Schlafe
zu seinem Dienst geleit.“
In der morgendlichen Begegnung mit dem Wort Gottes erfahren wir Gottes Nähe und dass wir ihm recht sind.
Egal nun, ob wir heute morgen schlecht oder gut aus den Federn gekommen sind, mit Sorgen beladen oder voller Vorfreude auf diesen neuen Tag: Gott ist uns nahe. Er spricht zu uns. Sein Wort macht es hell auf unseren Lebensweg.
Gott
„will vollen Lohn mir zahlen, / fragt nicht, ob ich versag.
Sein Wort will helle strahlen, / wie dunkel auch der Tag.“
Unser Leben ist geborgen
–
heute, morgen und an jedem neuen Tag.