
November: Ein feste Burg ist unser Gott – EG 362
Auslegung von Reinhard Ellsel
„Ein feste Burg ist unser Gott“. Martin Luther hat dieses Lied in angefochtener Zeit gedichtet und auch die Melodie dazu geschrieben.
„Ein feste Burg ist unser Gott“
: dieses Vertrauenslied ist eines der vertrautesten Lieder in der Evangelischen Christenheit.
EG 362,1
1. Ein feste Burg ist unser Gott,
ein gute Wehr und Waffen.
Er hilft uns frei aus aller Not,
die uns jetzt hat betroffen.
Der alt böse Feind
mit Ernst er`s jetzt meint;
groß Macht und viel List
sein grausam Rüstung ist,
auf Erd ist nicht seinsgleichen.
Welche Erinnerungen und Empfindungen haben Sie bei diesem Lied? Für mich verbinden sich mit diesem Lied schöne Kindheitserinnerungen. Gelernt habe ich das Lied im Religionsunterricht in der Grundschule. Zur vollen Entfaltung aber kam das Lied an den Abenden des 10. November. Da war nämlich Martins-Singen. In meiner ostwestfälischen Heimat ist das Martins-Singen heute noch verbunden mit dem Geburtstag des Reformators Martin Luther am 10.11.1483. Und in der Abenddämmerung zog ich dann mit meinen Freunden Olaf und Andreas von Haus zu Haus, wir klingelten und sangen aus vollem Halse: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Wenn sich die Türen öffneten, öffneten wir erwartungsfroh unsere Beutel. Und hinein plumpste ein Apfel oder ein Bonbon, ein kleiner Schokoriegel oder eine andere Süßigkeit.
„Ein feste Burg“: das sangen wir drei Freunde übrigens in ökumenischer Eintracht: Andreas war katholisch. Wir drei wussten uns mit unserem Singen auf den Spuren von Martin Luther. Dieser war selbst als Student singend von Tür zu Tür gezogen und hatte nach damaliger Sitte seinen Lebensunterhalt damit aufgebessert. Am späten Abend dann, im Wohnzimmer bei meinen Eltern, entleerte ich meinen zusammen gesungenen Schatz – erschöpft aber glücklich.
Seit diesen Kindheitserlebnissen habe ich natürlich eine positive Einstellung zu dem Lied „Ein feste Burg“. Es war und ist für mich ein Türöffner. Die geöffneten Türen, die freundlichen Gesichter und die Süßigkeiten: Das ist mir immer ein kleines Gleichnis dafür, dass ich bei Gott jederzeit anklopfen kann – mit meinen Problemen und Fragen, mit meinen Freuden und Absichten. Diese Erlebnisse haben mein Urvertrauen zu Gott gestärkt: Gott freut sich, wenn ich komme. Er gibt mir gerne das, was wirklich gut für mich ist. Zu Gott darf ich kommen und flüchten, so wie ich bin.
„Ein feste Burg ist unser Gott“: Das erklingt ja sozusagen mit Pauken und Trompeten. Es ist, als ob man mittelalterliche Ritterrüstungen klirren hörte und Landsknechte trommeln. Es ist ein Lied gegen die Angst, ein Lied des Trostes und des Vertrauens.
Martin Luther war nicht nur der starke Mann. Er war kein „Deutscher Held“. Als sein Lied zwischen 1527 und 1529 entstand, hat Luther zum ersten Mal sein qualvolles, unheilbares Steinleiden zu spüren bekommen. In seiner Heimatstadt Wittenberg wütete die Pest. Luther sorgte sich um das Leben seiner schwangeren Frau. Er war voller Anfechtungen und fragte sich, ob sein Weg der richtige sei. Aber er singt!
Mit seinem Lied malt uns Luther eine Burg vor Augen: die Wartburg oder die Veste Coburg, auf denen er einst Zuflucht gefunden hatte.
Hoch über der Ebene steht die Burg, fest gegründet auf einem Bergrücken, unbezwingbar, dem Himmel nahe, der Erde verbunden, wachend über Land und Leute. Der Turm gewährt Ausblick und Weitblick.
Schutz bieten die mächtigen Mauern, Sicherheit für die Burgbewohner. Tore öffnen sich für Freunde; sie schließen sich für Feinde.
Luther hat erfahren: Wie solch eine feste Burg
–
so ist Gott für uns. Gott hat alles in Händen, was im Himmel und auf Erden ist, auch unsere Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Und deshalb können wir von Gott dankbar singen:
„Er hilft uns frei aus aller Not.“
Von Menschen können wir das realistischer Weise nicht so sagen:
„Er oder sie hilft uns frei aus aller Not“
–
weder von Politikern noch von Freunden, weder von Ärzten noch von Pastoren.
Gott aber schützt mich, wenn ich schutzlos bin; er tröstet mich,
wenn ich trostlos bin; er gibt mir Frieden, wenn ich friedlos bin.
Mit Wehr und Waffen der Liebe umgibt er mich. Zu ihm kann ich fliehen wie zu einer Fluchtburg. Zu ihm kann ich beten mit den Worten aus Psalm 46:
„Gott ist unsere Zuversicht und Stärke, eine Hilfe in den großen Nöten, die uns getroffen haben.“
(Psalm 46,2)
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Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
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Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
EG 362,2
2. Mit unsrer Macht ist nichts getan,
wir sind gar bald verloren;
es streit` für uns der rechte Mann,
den Gott hat selbst erkoren.
Fragst du, wer der ist?
Er heißt Jesus Christ,
der Herr Zebaoth,
und ist kein andrer Gott,
das Feld muss er behalten.
„Mit unsrer Macht ist nichts getan“ – heutzutage wird so kräftig wie nie dem Dogma von der Machbarkeit aller Dinge gehuldigt. Internet und Gentechnik geben den menschlichen Allmachtsphantasien Auftrieb. Gleichzeitig erleben wir, dass die Unduldsamkeit unter uns immer mehr zunimmt. Immer mehr Menschen meinen: Es muss doch alles möglich sein – und zwar sofort.
Immer „höher, schneller, weiter“: Wo führt uns das hin? Wir ahnen, dass wir nicht alles machen dürfen, was wir machen können, wenn wir diese Welt und uns mit ihr nicht fertig- und kaputtmachen wollen.
"Wie kriege ich einen gnädigen Gott?": Das war die Frage, die die Reformation ausgelöst hat. So hat Martin Luther nach dem Sinn des Lebens gefragt. Darüber hat sich der Augustinermönch zermartert, aber er erlebte: „Mit meiner Macht ist nichts getan.“ Alle selbst gebauten Himmelsleitern, die er sich durch Möncherei und Werkerei bauen wollte, zerbrachen.
Und endlich ging es ihm auf: Leben, wirkliches Leben, ist Gnade, ist ein Geschenk von Gott. Dem verzweifelten Mönch hat sein Prior, Johann von Staupitz, gesagt: „Man muss den Mann ansehen, der da heißt Christus.“ Dieser Blick auf Jesus Christus hat Martin Luther befreit.
In unserem Lied spüren wir die erregende Entdeckung von Luther geradezu nachklingen in der Frage und Antwort: „Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ.“ Das ist die Grunderkenntnis der Reformation: „Allein Christus! Solus Christus!“
So steht er neben uns, der „rechte Mann, den Gott hat selbst erkoren.“ Jesus Christus ist der, der Mensch geworden ist, damit wir menschlich leben können. Er ist der, der uns ansieht, so dass wir uns sehen lassen können – egal, wie es mit uns aussieht. Er hat alles für uns geleistet, so dass wir uns untereinander nicht mehr gnadenlos an dem zu messen brauchen, was wir leisten und uns leisten können. Er ist der, der uns mit Liebe an sich bindet, damit wir frei werden von anderen Bindungen. Jesus ist der, der uns in seiner Nachfolge ermöglicht, auch unbequeme Dinge auszusprechen, Ungewohntes zu denken und verbotene Fragen zu stellen.
„Fragst du, wer der ist?“: Als neulich unter bundesdeutschen Kirchenmitgliedern nach der Bedeutung von Jesus gefragt wurde, antworteten nur etwa 25 Prozent, dass Jesus für sie der Sohn Gottes sei. Die überwiegende Mehrzahl der Befragten sieht in Jesus allenfalls einen vorbildlichen Menschen, an dem man sich ein Beispiel nehmen kann. – Wenn sie das wenigstens versuchen würden! Dann sähe es sicherlich besser aus in unserer Welt. –
Martin Luther aber sieht tiefer: Von Jesus bezeugt er, dass er ist: „Der Herr Zebaoth und ist kein andrer Gott.“ Jesus ist Gott selbst, er ist der Herr der himmlischen Heerscharen. Anders könnte er uns auch gar nicht das sein, was er für uns ist: Eine Burg, die uns Geborgenheit gibt; der Beistand in all den Kämpfen, die wir zu bestehen haben; der Richter, der uns freispricht von all den Anklagen, die der Teufel mit Recht oder Unrecht gegen uns vorbringt; der Herr, der uns sendet in seine Welt, damit wir sein Reich ausbreiten.
Von Jesus Christus gilt: „Das Feld muss er behalten.“ Und wir mit ihm. Von dieser Gewissheit geleitet, hat Luther die Aussagen in den Strophen drei und vier gemacht.
EG 362,3.4
3. Und wenn die Welt voll Teufel wär
und wollt uns gar verschlingen,
so fürchten wir uns nicht so sehr,
es soll uns doch gelingen.
Der Fürst dieser Welt,
wie sau`r er sich stellt,
tut er uns doch nicht;
das macht, er ist gericht`:
ein Wörtlein kann ihn fällen.
4. Das Wort sie sollen lassen stahn
und kein` Dank dazu haben:
er ist bei uns wohl auf dem Plan
mit seinem Geist und Gaben.
Nehmen sie den Leib,
Gut, Ehr, Kind und Weib:
lass fahren dahin,
sie haben`s kein` Gewinn,
das Reich muss uns doch bleiben.
„Und wenn die Welt voll Teufel wär“: Für Martin Luther war der so genannte
„Leibhaftige“
eine leibhaftige Realität. Was immer man auch von der Geschichte mit dem Tintenfass halten mag
–
er hörte den Teufel poltern auf der Wartburg.
Er weiß von ihm zu sagen:
„Der Teufel schläft näher bei mir als meine Käthe. Wenn Gott mich nicht hält, hat mich der Teufel in einem Augenblick verführt. Der Satan ist ein höllischer Reiter.“
Das klingt für moderne Ohren höchst unmodern.
Und doch spüren viele, dass es diese radikale Macht des Bösen gibt;
einen, der den guten Willen Gottes durcheinanderwirft; einen, der auch unsere guten Absichten und Erfindungen ins glatte Gegenteil führt.
Nun will ich Ihnen allerdings nicht den Teufel an die Wand malen. Sonst brauche ich mich nämlich nicht darüber zu wundern, wenn er da ist. Ich habe Jesus Christus an die Wand zu malen. Ich werde dem Teufel nicht eine Ehre geben, die ihm nicht gebührt; denn Gott und Jesus Christus allein gebührt die Ehre.
So hat es auch Jesus gemacht, als er vom Teufel versucht wurde in der Wüste (Matthäus 4): Er hat sich an das Wort Gottes gehalten und ist nicht eingegangen auf die „sauren“ Versuche des Versuchers, ihn von seinem Weg abzubringen. „Der Fürst dieser Welt, / wie sau`r er sich stellt, / tut er uns doch nicht; / das macht, er ist gericht`: / ein Wörtlein kann ihn fällen.“ Pech für die alte Schlange – aber wir brauchen kein Mitleid mit ihr zu haben.
Und ist das, so frage ich mich und Sie, eine Frechheit von mir, dass ich mit Ihnen nun auch noch die 4. Strophe bedenke?: „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie haben`s kein` Gewinn.“ Diese vierte Strophe hat ja bisweilen schon das ganze Lied in Verruf gebracht, so dass manche Theologen es überhaupt nicht mehr singen lassen.
Ich will darauf eine ganz persönliche Antwort geben: Ich bin gewiss kein Glaubensheld. Ich liebe meine Frau und meine vier Kinder. Ich liebe auch mein Leben und ich bin gerne gesund und fröhlich. Allerdings: Derjenige, der mir das alles schenkt, ist mir wichtiger als alles Geld der Welt, er ist mir sogar wichtiger als die Kirche, als meine Gesundheit und als meine Familie.
Ich bin dankbar dafür, dass ich in einer Zeit leben darf, in der ich die Probe nicht aufs Exempel machen muss. Aber wenn es darauf ankommt, zu bekennen, worauf ich mein Leben gründe. Wenn es sozusagen zum Schwur kommt, dann sage ich mit Martin Luther: „Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, das Feld muss er behalten.“