
Oktober: Wir pflügen und wir streuen – EG 508
Auslegung von Reinhard Ellsel
Zum Erntedankfest sieht es in unseren Kirchen anders aus als sonst. Die Altäre sind reich geschmückt. Nicht nur auf dem Wochenmarkt, sondern eben auch in der Kirche sehen und riechen wir Äpfel, Birnen und Pflaumen, herbstliche Zweige, vielleicht einen duftenden Laib Brot, eine Kiste mit Kartoffeln, pralle Kürbisse.
Das Erntedankfest bietet etwas für die Sinne: Farben und Gerüche. Der Herbst mit seiner ganzen Fülle hält Einzug. Und es vermischt sich, was sonst meist getrennt ist: das scheinbar nur Weltliche und der Bereich des Heiligen, das Alltägliche und das Feierliche, das Natürliche und das Göttliche.
Der Schöpfer und die Schöpfung gehören zusammen. Entsprechend heißt es im 1. Timotheusbrief im 5. Kapitel:
4 Alles, was Gott geschaffen hat, ist gut,
und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird;
5 denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes
und durch das Gebet.
Unser Alltag, unsere Lebensmittel sind nicht aus irgendeinem geistlichen Grund zu verachten oder gar zu verwerfen, sondern sie sind gute Gaben Gottes, die wir dankbar genießen können. Der Dank an Gott heiligt unser ganzes Leben.
Mit diesen Worten nimmt der Apostel Paulus Stellung zu einer Diskussion, die unter den ersten Christen entbrannt war. Einige diskutierten heftig darüber, wie sich Gott und die Welt eigentlich zueinander verhalten, das Heilige und das Alltägliche. Damals gab es eine lautstarke Gruppe, die zwischen dem göttlichen Erlösungswerk durch Jesus Christus und der alltäglichen Welt einen strengen Trennungsstrich zogen. Das Heilige, so sagten sie, sei etwas höheres, etwas innerlich-geistliches, was mit der normalen Welt nichts zu tun haben dürfe. Die Welt selbst sei schlecht und böse.
Und aus dieser Sicht folgerten sie: Wer an Gott glaube, müsse sich von allen weltlichen Genüssen so weit wie möglich fernhalten – ob nun Sexualität, Essen oder Trinken. Enthaltsamkeit und eine asketische Lebensweise seien absolut notwendige Grundvoraussetzungen, um in Kontakt mit Gott zu kommen und das Heil zu erlangen. Mit solchen Gedanken machte diese lautstarke Gruppe den anderen Christen ein schlechtes Gewissen und schärfte ihnen ein: Ihr dürft nicht heiraten, und dieses und jenes dürft ihr nicht essen oder trinken.
Der Apostel Paulus argumentiert dagegen. Wo die skrupulösen Christen eine scharfe Trennungslinie ziehen wollen zwischen Gott und der Welt, schlägt er eine Brücke. Der Apostel weiß nämlich: Alles, was Menschen dankbar und mit ehrlichem Gewissen genießen können, ist gut, ja sogar heilig – auf eine ganz besondere Art – so wie das heute auch unsere Erntedankaltäre ausdrücken. Denn Gott, der allen Menschen die Erlösung und das ewige Heil anbietet in seinem Sohn Jesus Christus, ist derselbe Gott, der die Welt geschaffen hat, damit wir in ihr leben, sie mitgestalten und auch unsere Freude daran haben. Gott selbst hat eine Brücke von sich aus zu uns gebaut, indem er seine ganze Schöpfung mit uns teilt. Gottes ganze gute Schöpfung steht uns offen.
Und wir sind heute zum Erntedankfest besonders dazu eingeladen, diese Brücke zu Gott zu betreten. Wer Gott dankt, begeht diese Brücke. Wer Gott dankt, freut sich über sein ganzes Leben.
Auch das Lied „Wir pflügen, und wir streuen“ von Matthias Claudius bringt dankbar das Heilige und das Alltägliche zusammen, das Göttliche und das Weltliche.
EG 508,1.2
1. Wir pflügen, und wir streuen
den Samen auf das Land,
doch Wachstum und Gedeihen
steht in des Himmels Hand:
der tut mit leisem Wehen
sich mild und heimlich auf
und träuft, wenn wir heimgehen,
Wuchs und Gedeihen drauf.
Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn,
drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt
und hofft auf ihn!
2. Er sendet Tau und Regen
und Sonn- und Mondenschein,
er wickelt seinen Segen
gar zart und künstlich ein
und bringt ihn dann behende
in unser Feld und Brot:
es geht durch unsre Hände,
kommt aber her von Gott.
Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn,
drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt
und hofft auf ihn!
Allerdings drängen sich zu Erntedank auch kritische Fragen auf: Ist nicht der Dank, mit dem Matthias Claudius seine Freude über Gottes gute Schöpfung besingt, reichlich naiv? Stimmt das denn für uns Menschen im 3. Jahrtausend noch: „Es geht durch unsre Hände, kommt aber her von Gott.“? Stimmt das auch für die Gentechnik? Was ist mit den vielen Möglichkeiten der Organtransplantation? Es scheint heutzutage für den Menschen überhaupt keine Tabu-Themen mehr zu geben, nichts und niemand ist ihm mehr heilig.
Wo finde ich eigentlich Richtlinien, dass ich mich in dem Wirrwarr der Überinformation zurechtfinden kann? Die Medien jedenfalls sind auch nicht unabhängig und nicht nur die Werbeindustrie versucht, uns und unsere Wertmaßstäbe zu manipulieren. Der Predigttext gibt uns, wie ich meine, ein gutes Kriterium an die Hand.
Der Apostel schreibt:
„Nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird;
denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und durch das Gebet.“
Die Bindung an Gott und das Gespräch mit ihm wird uns hier empfohlen. Kann ich Gott zum Beispiel danken für die Errungen-schaften der Organtransplantation? Oder muss ich für mich persönlich sagen: Nein, manche Forschungsergebnisse der Gentechnik bringe ich mit Gott nicht zusammen. Davon lasse ich die Finger.
Da hatte es Matthias Claudius vor über 200 Jahren wohl leichter als wir. Und trotzdem empfinde ich seine einfältige Dankbarkeit, mit der er die Brücke zu Gott betreten hat, als wohltuend.
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Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
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Martin Luther glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen können, die christlichen Lehren besser zu vermitteln. Deshalb veröffentlichte er 1524 das Achtliederbuch. Seitdem ist das Gesangbuch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt, erweitert und erneuert worden. › Weiter zur Arbeitshilfe |
EG 508,3.4
3. Was nah ist und was ferne,
von Gott kommt alles her,
der Strohhalm und die Sterne,
der Sperling und das Meer.
Von ihm sind Büsch und Blätter
und Korn und Obst von ihm,
das schöne Frühlingswetter
und Schnee und Ungestüm.
Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn,
drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt
und hofft auf ihn!
4. Er lässt die Sonn aufgehen,
er stellt des Mondes Lauf;
er lässt die Winde wehen
und tut den Himmel auf.
Er schenkt uns so viel Freude,
er macht uns frisch und rot;
er gibt den Kühen Weide
und unsern Kindern Brot.
Alle gute Gabe kommt her von Gott, dem Herrn,
drum dankt ihm, dankt, drum dankt ihm, dankt
und hofft auf ihn!
Es gibt viele Dinge, für die ich Gott danken kann. Es gibt viel, womit ich dankbar die Brücke zu Gott begehen kann. Diese Wanderung über die Brücke der Dankbarkeit macht mein ganzes Leben in einem tieferen Sinne reich, sogar heilig.
Matthias Claudius hat in seinem Lied einiges aufgeschrieben, wofür er Gott dankbar ist. Was würden Sie denn mit auf die Brücke der Dankbarkeit nehmen?
In Gesprächskreisen der Gemeinde haben wir darüber nachgedacht: Wofür bin ich Gott dankbar? Und wir haben sozusagen unseren persönlichen
„Erntedank-Zettel“
ausgefüllt. Viele Dinge sind da zusammen gekommen:
Ich danke Gott dafür,
dass ich nicht zu hungern brauche;
dass wir hier seit über 75 Jahren in Frieden leben können.
Ich bin Gott dankbar dafür,
dass er mir das Leben geschenkt hat;
dass ich gesund bin;
dass ich einen Beruf habe, der mich ausfüllt;
dass ich eine liebe Familie habe.
Ich danke Gott dafür,
dass er mich durchgetragen hat durch viele Nöte;
dass ich gesunde Kinder habe, die ihren Weg mit Jesus gehen.
Ich danke Gott
für die Menschen, die mich begleiten und verstehen;
dass ich mit seiner Hilfe meine Krankheit besser ertragen kann;
dass ich zweimal nach einer Krebsoperation wieder gesund geworden bin.
Ich bin Gott dankbar dafür,
dass Jesus mir jeden Tag neu meine Schuld vergibt;
dass ich Gott jeden Abend alles anvertrauen darf;
dass mir Gott jeden Tag neue Kraft gibt.
Ich danke Gott
für die Menschen, die für mich gebetet haben, als ich in Not war;
für alles, was ich im Krankenhaus über mich selbst gelernt habe;
für die kleine Kraft, mit der ich jetzt wieder Zuhause leben kann.
Ich danke Gott für sein Wort und dass er seinen Sohn Jesus Christus in unsere Welt geschickt hat.
Ich möchte schließen mit einer Begebenheit aus einem Altenheim.
Ein Arzt besucht dort seine Patienten. Ihm fällt ein 96jähriger Mann auf, der stets zufrieden und freundlich ist. Eines Tages spricht ihn der Arzt darauf an und fragt nach dem Geheimnis seiner Lebensfreude.
Lachend antwortet der Mann:
„Herr Doktor, ich nehme jeden Tag zwei Pillen, die helfen mir!“
Verwundert schaut der Arzt ihn an und fragt:
„Zwei Pillen nehmen sie täglich? Die habe ich Ihnen doch gar nicht verschrieben!“
Verschmitzt lacht der Mann und antwortet:
„Das können Sie auch gar nicht, Herr Doktor. Am Morgen nehme ich gleich nach dem Aufstehen die Pille Zufriedenheit. Und am Abend, bevor ich einschlafe, nehme ich die Pille Dankbarkeit. Diese beiden Pillen haben ihre Wirkung noch nie verfehlt.“ –
„Das will ich Ihnen gerne glauben", meint der Arzt:
„Ihr gutes Rezept werde ich gerne weiter empfehlen.“
Und so mache ich es auch: Ich empfehle Ihnen die Dankbarkeit. Diese seelische Medizin macht uns Mut zum Leben. Die Dankbarkeit macht unser ganzes Leben gesund.