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Musik – Theologie – Kulturgeschichte
Augustinus hat einst gesagt: „Wer singt, betet doppelt“. Auch für Luther war Musik ein wesentlicher Bestandteil der Seelsorge. Zusätzlich spielt der Gesang eine bedeutende Rolle bei der Verbreitung des Evangeliums. Es liegt daher nahe, über Kirchenlieder zu predigen und ihre liturgische, seelsorgerliche und verkündigende Funktion zu stärken. Wir ermutigen dazu, die Kraft der Musik in der Kirche zu nutzen und ihre Bedeutung für den Glauben zu betonen.
Kurze Kulturgeschichte
Seit langer Zeit ist die Römisch-Lateinische Kirche im Besitz von liturgischen Büchern, die Graduale (Messe-Zwischengesang) und Antiphonale (enthält Melodien und Texte aller Gesänge des Stundengebets). Diese haben meist lateinische Gesänge des Gregorianischen Chorals und sind nicht für den Gemeindegesang gedacht. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die Gläubigen durch die Liturgische Bewegung aktiver in den Gottesdienst einbezogen. Aus der Graduale ist die Kyriale für die Gemeinde bekannt. Eines der ältesten bekannten Gemeindegesangbücher, das 1501 in Tschechisch gedruckt und vermutlich in Prag veröffentlicht wurde. Martin Luther trat für die Beteiligung der Gemeinde am Gottesdienst ein. Er glaubte, dass Kirchenlieder dazu beitragen könnten, Lehren zu vermitteln.
1524 veröffentlichte er das Achtliederbuch. Dieses Buch enthielt auf zwölf Seiten acht Lieder, die von der Gemeinde gesungen werden sollten. Luther war davon überzeugt, dass es wichtig war, dass die Gläubigen aktiv am Gottesdienst teilnahmen und nicht nur Zuschauer waren.
Seitdem ist das Gesangbuch auch in einem dynamischen Prozess immer wieder ergänzt (s. Lieder von Paul Gerhardt), erweitert und erneuert (letztmalig 2019) worden.
Im Laufe der Zeit entwickelte sich eine Vielfalt an Kirchenliedern für den Gemeindegesang. Viele dieser Lieder sind bis heute bekannt und werden in Gottesdiensten auf der ganzen Welt gesungen.
Der Gemeindegesang hat im Laufe der Jahrhunderte einen bedeutenden Platz in vielen religiösen Traditionen eingenommen. Durch ihn können Menschen ihre Spiritualität ausdrücken und miteinander teilen – ein wertvoller Beitrag zur menschlichen Kulturgeschichte! 2024 feiert die EKD dieses Ereignis mit einem umfangreichen Programm.
Zitat
Gott will nicht, dass wir nach seiner Pfeife tanzen, sondern uns über seine Musik freuen.
Musik aus medizinischer Sicht
Es sind oft auch traurige Lieder, die Menschen auf verschiedene Weise glücklich machen können, wie kürzlich englische Wissenschaftler von der Universität Oxford erforschten. So wie es Musikern und Komponisten gelingt, große Gefühle in Musik hineinzupacken und zu transportieren, können die Menschen die Emotionen aus der Musik herausholen und empfinden. Vor allem jene Menschen, die überdurchschnittlich mitfühlend sind, ziehen auch aus trauriger Musik positive Energie. Warum ist das so? Diese Frage beschäftigt immer mehr Hirnforscher, Neurowissenschaftler, Psychologen und andere Wissenschaftler, die das Geheimnis der Musik entschlüsseln wollen.
Einer von ihnen ist der Hirnforscher Stefan Koelsch, der an der Universität im norwegischen Bergen lehrt. Der Max-Planck-Forscher hat ursprünglich am Bremer Konservatorium ein Musik-Studium für Geige, Piano und Komposition abgeschlossen. Doch anstatt für eine Berufsmusiker-Karriere entschied er sich im Anschluss für ein Psychologie- Studium. Die Uni brachte Koelsch mit den aufstrebenden Neurowissenschaften in Berührung. Dabei zeichnen die Forscher mit modernster Medizintechnik die komplexen Aktivitäten in den Gehirnregionen nach. Heute gilt Koelsch als einer der bekanntesten Musikpsychologen der Welt.
Der Kern des Glückserlebnisses der Musik liege in ihrem sozialen Aspekt: „Selbst wenn man alleine im Lehnstuhl sitzt und sich einen Kopfhörer aufsetzt, simuliert das Gehirn viel an Gemeinschaftsaktivität. Das Gehirn weiß, dass andere dafür gemeinschaftlich Musik machen. Man fühlt sich von der Musik angesprochen und erlebt dadurch eine Kommunikation.“ Heute können die Neurowissenschaftler mit EEG-Messungen der Hirnströme und Magnetresonanztomografie dem Gehirn bei der Arbeit zuschauen. Die sogenannten „bildgebenden Verfahren“ machen sichtbar, wie Musik auf komplexe Weise viele Regionen des Gehirns auf einmal anspricht.
„Als Hirnforscher könnte man sogar jede Region im Gehirn durch Musik aktivieren“, sagt Koelsch. Eine der interessantesten Erkenntnisse zum Verständnis der Musik sei, dass das Gehirn keinen großen Unterschied zwischen Musik und Sprache macht. „Wir sehen im Gehirn, dass die Verarbeitung von Musik und Sprache sehr ähnlich ist und in fast denselben Neuronen-Netzwerken abläuft.“ Auch die Sprache folgt einem bestimmten Rhythmus und einer Melodie. „Kleinkinder lernen einen Großteil des Sprechens über den Musikanteil in der Sprache“, sagt Koelsch. Auch beim Hören von Sprache und Musik sind die Neuronen im Gehirn so aktiv wie beim Sprechen oder Musizieren.
Auch das Empfinden der Musik ähnelt oft der Sprache. Zum Beispiel wirkt auf viele Europäer eine echte chinesische Peking-Oper unharmonisch bis verstörend. „Das ist wie, wenn man die Menschen mit einer fremden Sprache beschallt, die sie nicht kennen: Es nervt nach einer Weile.“ Wer nicht mit den Regeln und Gesetzmäßigkeiten fremder Musik vertraut ist, kann damit nichts anfangen. „Auch die damals neue Musik Ludwig van Beethovens wurde von Zeitgenossen als viel zu schroff und dissonant abgetan“, sagt Koelsch. „Aber wenn man aus Beethoven sämtliche Dissonanzen herauskürzen würde, wären seine Stücke sterbenslangweilig.“
Auszüge aus dem Artikel von Michael Pohl
Singen Sie mit Ihrer besten Freundin, Ihrem Freund, Ihr Lieblingslied.
Während meines Spaziergangs durch die malerische Altstadt von Koblenz wurde ich von einem Lied über Gottes Liebe überrascht und tief berührt. Es war, als ob die Melodie in meine Seele eintauchte und mich auf eine ganz besondere Art verzauberte. Es ist wunderbar, wie ein solches Lied, das nur wenige Minuten dauert, so viel in uns auslösen kann: Trost, Inspiration und Mut. Genau das spiegelt sich auch in den alten Liedern von der Bibel, die von menschlichem Leid, Jubel und Lobpreis für Gott erzählen. Sie helfen uns in allen Lebenslagen, wenn wir selbst keine Worte mehr finden. Sie sprechen für uns und können uns trösten, ermutigen und bestärken. Ein besonders bekanntes Lied ist dabei sicherlich der Psalm 23, der uns an Gottes Liebe und Großmut erinnert.
Herr, in den Städten und in der Luft
erklingen Melodien.
Komm zu mir,
wenn nur noch ein Lied zu mir spricht,
wenn ich einsam und verlassen bin.
Je länger eine Melodie erklingt,
um so ruhiger werde ich.
Wenn ich in einem neuen Lied
leicht zu finden bin,
sing‘ es mit mir und entdecke mich
in einem Lied.
Herbert F. Brokering
Einleitung: 500 Jahre Gesangbuch
Andacht von Reinhard Ellsel
„Gott hat unser Herz und Mut fröhlich gemacht durch seinen lieben Sohn, welchen er für uns gegeben hat zur Erlösung von Sünde, Tod und Teufel. Wer solches mit Ernst glaubet, der kann´s nicht lassen, er muss fröhlich und mit Lust davon singen und sagen, dass es andere auch hören und herzukommen.“
Das schreibt Martin Luther in einer Vorrede zu einem Gesangbuch (1545). Daraus wird deutlich, dass die Reformation auch eine Singe-Bewegung war. Und deshalb entstanden bereits 1524 die ersten Evangelischen Gesangbücher – vor 500 Jahren.
Der erste Anstoß für das Liedschaffen von Martin Luther kam von außen. Am 1. Juli 1523 wurden in Brüssel auf dem Marktplatz zwei junge Augustinermönche öffentlich verbrannt. Die beiden Ordensbrüder von Luther hatten sich zu seiner Lehre bekannt.
Der Tod dieser ersten Märtyrer der Reformation ist für Martin Luther ein Schock. In einer Stimmung von Trauer und Trotz schreibt er einen offenen Brief an die Christen in den Niederlanden und fügt ein Protestlied dazu: „Ein neues Lied wir heben an.“ Das Lied, eine Art Zeitungs-Ballade, wird wohl als Flugblatt verbreitet und weitergetragen von Markt zu Markt, von Mund zu Mund.
Damit hat Luther ein neues Medium entdeckt; ein Transport-Mittel, mit dem er seine reformatorische Erkenntnis weitertragen kann: Das Lied. Vom Herbst 1523 bis zum Sommer 1524 entstehen Zweidrittel seiner gesamten poetischen Produktion, nämlich 24 Lieder.Darunter ist das Adventslied „Nun komm, der Heiden Heiland“.
EG 4,1.2.4
Nun komm, der Heiden Heiland,
der Jungfrauen Kind erkannt,
dass sich wunder alle Welt,
Gott solch Geburt ihm bestellt.
Er ging aus der Kammer sein,
dem königlichen Saal so rein,
Gott von Art und Mensch, ein Held;
sein` Weg er zu laufen eilt.
Dein Krippen glänzt hell und klar,
die Nacht gibt ein neu Licht dar.
Dunkel muss nicht kommen drein,
der Glaub bleibt immer im Schein.
In der Adventszeit 1523 hat Martin Luther einen lateinischen Hymnus von Ambrosius zum deutschen Lied übersetzt: „Nu komm, der Heiden Heiland“. Auch hat er die vorliegende gregorianische Melodie zu einem rhythmischen Volkslied umgeformt.
Werfen wir nun einen Blick in Luthers Dichterwerkstatt. Der Reformator sammelt und prüft das bereits vorhandene Liedgut. Er will nicht um jeden Preis Neues schaffen. Luther lehnt sich an die Tradition an, um das, was dem Volk schon bekannt ist, zu neuem Leben zu erwecken.
Vor Luther dominierte im Gottesdienst der Gregorianische Gesang. Das waren in lateinischer Sprache gesungene Antiphonen, Hymnen und sonstige Gesänge. Die Sänger waren die Priester, mal ein Chor, mal eine Schola. Die Gemeinde aber wurde am Gesang nur selten beteiligt, mit einem deutschen geistlichen Volkslied oder mit einer so genannten „Leise“. Eine „Leise“, der Name stammt von dem abschließenden Gebetsruf „Kyrieleis!“, war ein kurzer einstrophiger Zwischenruf bei Prozessionen und Wallfahrten.
Luther aktiviert nun mit seinen deutschsprachigen Liedern die Gemeinde und beteiligt sie am Gottesdienst.
Dabei will er keine Zeit verlieren. Denn sein Gegenspieler, der Allstedter Prediger Thomas Müntzer hat kurz zuvor elf lateinische Hymnen ins Deutsche übertragen. Wenig später wird Müntzer das thüringische Bauernheer gegen die Fürsten anführen.
Luther will unbedingt verhindern, dass sich mit dessen deutschen Liedern auch die revolutionären Ideen Müntzers weiter ausbreiteten. Mit seinen eigenen Liedern versucht Luther die Reformation zwischen dem Lager der römisch-hierarchischen Papstkirche und dem schwärmerisch-revolutionären Lager zu festigen.
Im Gedränge der Zeit merkt der Reformator aber auch, dass er an seine kreativen Grenzen stößt. Deshalb sucht er dringend andere Dichter und Sänger, die im reformatorischen Geist deutsche Lieder schreiben. Ende 1523 startet Luther folgenden Aufruf:
„Ich möchte, wir hätten möglichst viele deutsche Lieder, die das Volk in der Messe singt. Zweifellos hat früher das gesamte Volk das gesungen, was jetzt nur noch der Chor singt. Aber noch fehlt es an Dichtern – oder noch sind sie nicht hervorgetreten.“ (Formula Missae et Communionis)
Bald darauf richtet Luther auch einen gezielten Appell an einige
Freunde:
„Wir planen nach dem Beispiel der Propheten und der
alten Kirchenväter für die Menge deutsche Psalmen zu dichten, geistliche
Gesänge, damit Gottes Wort auch gesungen im Volke lebe. Darum suchen wir allenthalben Dichter.
Da Du die deutsche Sprache so füllig und glänzend beherrschest,
möchte ich Dich bitten, dass Du Dich mit uns bemühst.
Neue modisch-elegante Töne sähe ich freilich gern vermieden;
denn um die Menge zu gewinnen, muss man ganz schlichte, landläufige,
aber immer zugleich saubere und treffende Ausdrücke wählen.
Ich selbst bin nicht hinreichend begnadet, dass ich dergleichen so
machen könnte, wie ich möchte.“
(Brief an den kurfürstlichen Kanzler Georg Spalatin, Ende 1523 / Anfang 1524)
Schon bald bekommt Luther Unterstützung. Paul Speratus schreibt Ende 1523 in Wittenberg eine gesungene reformatorische Predigt: „Es ist das Heil uns kommen her“.
EG 342,1-4.6
Es ist das Heil uns kommen her
von Gnad und lauter Güte;
die Werk, die helfen nimmermehr,
sie können nicht behüten.
Der Glaub sieht Jesus Christus an,
der hat für uns genug getan,
er ist der Mittler worden.
Was Gott im G`setz geboten hat,
da man es nicht konnt halten,
erhob sich Zorn und große Not
vor Gott so mannigfalten;
vom Fleisch wollt nicht heraus der Geist,
vom G`setz erfordert allermeist;
es war mit uns verloren.
Doch musst das G`setz erfüllet sein,
sonst wärn wir all verdorben.
Drum schickt Gott seinen Sohn herein,
der selber Mensch ist worden;
das ganz Gesetz hat er erfüllt,
damit seins Vaters Zorn gestillt,
der über uns ging alle.
Und wenn es nun erfüllet ist
durch den, der es konnt halten,
so lerne jetzt ein frommer Christ
des Glaubens recht Gestalte,
Nicht mehr denn: „Lieber Herre mein,
dein Tod wird mir das Leben sein,
du hast für mich bezahlet.“
Es ist gerecht vor Gott allein,
der diesen Glauben fasset;
der Glaub gibt einen hellen Schein,
wenn er die Werk nicht lasset;
mit Gott der Glaub ist wohl daran,
dem Nächsten wird die Lieb Guts tun,
bist du aus Gott geboren.
Paul Speratus ist ein enger Mitarbeiter von Luther und beteiligt sich an der Zusammenstellung der ersten Sammlung von reformatorischen Kirchenliedern. Im Frühsommer 1524 erscheint das von Luther herausgegebene „Achtliederbuch“. Darunter ist auch sein „Es ist das Heil uns kommen her“.
Johannes Gutenberg hatte um 1450 den Buchdruck mit beweglichen Lettern und die Druckerpresse erfunden. Diese mediale Revolution sorgte auch für die schnelle Verbreitung der reformatorischen Gedanken.
Am 31. Oktober 1517 hatte Martin Luther mit dem Thesenanschlag gegen den Ablasshandel den Anstoß zur Reformation gegeben. Auf Flugblättern wurde Luthers Lehre in Windeseile in den deutschsprachigen Landen verbreitet. Ebenso wurden auch die neuen reformatorischen Lieder durch Flugblätter und Gesangbücher verbreitet und schon bald an vielen Orten gesungen.
Zum Beispiel in Magdeburg. Ein Bericht aus dem Frühjahr 1524: „Zwischen Pfingsten und Ostern ist ein alter Mann, ein Tuchmacher bei (dem Denkmal des) Kaiser(s) Otto gestanden und hat allhier die ersten geistlichen Lieder feilgehabt, als ‘Aus tiefer Not schrei ich zu dir ...’ und ‘Es wolle Gott uns gnädig sein ...’ und hat solche den Leuten vorgesungen.“
Ein anderer Bericht aus Magdeburg ergänzt:
„Ein loser Bettler hatte zu Magdeburg auf dem Markte etliche Martinische Lieder feil und sang sie öffentlich hin und wieder, wo er hinkam und lehrte Mann und Weib, auch Jungfrauen und Gesellen, so viele, dass die deutschen Lieder so verbreitet wurden, dass das gemeine Volk dieselben darnach täglich in allen Kirchen, ehe man die Predigt anfängt, öffentlich gesungen hat und noch singet.“
Das Jahr 1524 ist das Geburtsjahr des Gesangbuches. Neben dem „Achtliederbuch“ erscheint im Spätherbst ein „Geistliches Gesangbüchlein“. Johann Walter ist sozusagen der „Urkantor“ der deutschen Evangelischen Kirche. Für das „Geistliche Gesangbüchlein“ hat er zu 38 deutschen Liedern mehrstimmige Chorsätze komponiert.
Im Spätsommer 1524 war bereits das „Erfurter Handbüchlein“ erschienen. Es enthält neben Liedern von Martin Luther und einzelnen Gesängen anderer ein Lied von einer Frau. Das ist eine Sensation! Denn Frauen hatten damals noch nicht viel zu sagen – auch nicht in der Kirche. Aber die Reformatoren waren ihrer Zeit weit voraus.
Das Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“ wurde von Elisabeth Cruciger getextet. Die Melodie dazu hat sie sich von einem weltlichen Liebeslied ausgeborgt und angepasst.
EG 67,1.2
Herr Christ, der einig Gotts Sohn,
Vaters in Ewigkeit,
aus seim Herzen entsprossen,
gleichwie geschrieben steht,
er ist der Morgensterne,
sein Glänzen streckt er ferne
vor andern Sternen klar.
Für uns ein Mensch geboren
im letzten Teil der Zeit,
dass wir nicht wärn verloren
vor Gott in Ewigkeit,
den Tod für uns zerbrochen,
den Himmel aufgeschlossen,
das Leben wiederbracht.
Einprägsam bringt das Lied die reformatorische Theologie mit den so
genannten vier „Soli“ auf den Punkt. „Solus“ heißt lateinisch „allein“:
„Solus Christus!“ Allein bei ihm und durch ihn finden wird das
Heil. Es gibt keine anderen Heilsvermittler, weder Papst noch Heilige.
Jesus Christus wird in dem Lied direkt angesprochen. Das ist die
erste der befreienden Erkenntnisse der Reformation: Wir können
direkt mit Jesus Christus sprechen.
Die zweite reformatorische Erkenntnis findet sich in der Formulierung „gleichwie geschrieben steht“. Alles was die Reformatoren lehren, lässt sich an Hand der Bibel nachprüfen. „Sola scriptura!“ Allein die Schrift – und nicht noch menschliche Satzungen und Traditionen.
EG 67,3
Lass uns in deiner Liebe
und Kenntnis nehmen zu,
dass wir am Glauben bleiben,
dir dienen im Geist so,
dass wir hier mögen schmecken
dein Süßigkeit im Herzen
und dürsten stets nach dir.
Das ist die dritte reformatorische Erkenntnis: „Sola fide!“
Allein im Glauben wird das Miteinander mit Gott erlebt und
ausgelebt. Ich kann und muss mir Gottes Zuneigung nicht erarbeiten,
nicht verdienen. Vielmehr hat Gott mich erwählt aus reiner Gnade.
Das ist die vierte reformatorische Erkenntnis: „Sola gratia!“
Allein aus Gnade sind wir Gottes Kinder, unverdient. Gottes Gnade
und Güte arbeiten an uns, dass wir im Glauben wachsen.
EG 67,5
Ertöt uns durch dein Güte,
erweck uns durch dein Gnad.
Den alten Menschen kränke,
dass der neu` leben mag
und hier auf dieser Erden
den Sinn und alls Begehren
und G`danken hab zu dir.
Martin Luther hat oft gesagt, dass wir den alten Adam immer wieder ersäufen müssen. Er hat damit gemeint, dass wir die gottfernen Seiten in uns zu Gott bringen, und die Meckerei und Stänkerei unseres Herzens aufgeben. Wir stehen uns sonst nur selbst im Wege. Gott aber will unsere Herzen in Liebe gewinnen und uns ins Weite führen.
Martin Luther: „Das christliche Leben ist nicht Frommsein, sondern ein Frommwerden, nicht Gesundsein, sondern ein Gesundwerden, nicht Sein, sondern ein Werden, nicht Ruhe, sondern eine Übung. Wir sinds noch nicht, wir werdens aber. Es ist noch nicht getan und geschehen, es ist aber der Weg. Es glühet und glänzt noch nicht alles, es bessert sich aber alles.“
Gott setzt bei uns beim „Fromm-Werden“ an. Das ist ein Prozess, der Freude macht. Gott legt also für uns die Messlatte nicht hoch und verlangt von uns nicht ein perfektes Fromm-Sein. Das würde uns nur niederdrücken oder zu unehrlichen Menschen machen, die sich aus Angst vor Strafe nach außen besser darstellen, als sie tatsächlich sind.
Gott begleitet uns liebevoll und geduldig, damit wir im Glauben wachsen. Deshalb konnte Elisabeth Cruciger auch ein tänzerisches Liebeslied schreiben. Gott erdrückt uns nicht mit seinem Anspruch sondern er bietet sich uns an, mit uns durch das Leben zu tanzen.
Gottesdienstentwürfe
Gott berührt
Herr Christ, der einig Gotts Sohn (EG 47)
Liebe Gemeinde!
Wir schreiben das Jahr 1524. In Wittenberg wird Hochzeit gefeiert.
Johannes Bugenhagen, der Stadtpfarrer von Wittenberg und enger
Freund Martin Luthers, lädt gemeinsam mit seiner Frau Walpurga ein.
Die Braut lebt in seinem Haushalt, als jüngere Freundin und reformatorische
Mitstreiterin, eine Glaubensschwester: „unsere Elisabeth“,
schreibt der Hausherr, als er einlädt und die Freunde um einen
Beitrag zur Festtafel bittet. Gemeint ist Elisabeth von Meseritz,
eine ehemalige Nonne. Das einzige Bild, das wir von ihr kennen,
zeigt eine hübsche Frau mit großen Augen und einem milden und
freundlichen Lächeln. Geboren um 1500 in Meseritz, Hinterpommern,
war Elisabeth eine pommersche Adelstochter, die man – wie
damals üblich – schon als Kind in das Prämonstratenserinnen-
Kloster Marienbusch in Treptow an der Rega brachte. Als junges
Mädchen im Kloster aufzuwachsen war für adelige Damen damals
durchaus standesgemäß. Sie lernten Lesen und Schreiben, Rechnen
und Wirtschaften, erhielten eine grundlegende Glaubensbildung und
waren darum oft sehr gebildete Frauen. Den Texten Elisabeths lässt
sich nachempfinden, dass sie diese Dinge aufgenommen und tief in
ihr Leben integriert hat. Sie war eine gebildete Briefeschreiberin, die
theologische Korrespondenz mit ihren Zeitgenossinnen und Zeitgenossen
unterhielt, und eine kluge und fromme Frau, die geistliche
Lieder schrieb. Überliefert ist uns eines der Lieder dieser „Mutter
der Reformation“, deren tiefer und inniger Glaube mich auch über
Jahrhunderte hinweg berührt.
Nachdem sich seit 1517 die reformatorischen Gedanken schnell in ganz Deutschland und darüber hinaus verbreitet hatten, verließ auch Elisabeth von Meseritz das Kloster, bewegt von den Ideen der Reformation. Sie ging nach Wittenberg und lebte bei der Familie ihres Lehrers Johannes Bugenhagen. 1524 heiratet sie Caspar Cruciger, der Schüler und bedeutender Mitstreiter Martin Luthers war. Er arbeitete bei der Bibelübersetzung mit, protokollierte Luthers Predigten und war in späteren Jahren Theologieprofessor und Prediger an der Schlosskirche. Elisabeth war Zeit ihres Lebens eng und liebevoll mit Katharina Luther befreundet. Sie hatte zwei Kinder: Sohn Caspar, 1525 geboren, wurde später der Nachfolger Philipp Melanchthons und hatte dessen weitsichtige und kluge Denkweise, die die unterschiedlichen Strömungen der Reformation zu verbinden verstand. Die Tochter Elisabeth heiratete später einen Sohn Martin Luthers, Hans.
Schon 1524, im Jahr der Hochzeit, wird das Lied veröffentlicht, das uns bis heute Glaubenstiefe, sprachliche Gewandtheit und theologische Klugheit dieser besonderen Frau erspüren lässt. Sie ist damit für eine lange Zeit eine der wenigen Liederdichterinnen der evangelischen Kirche. Wir wissen, dass sie von einem Traum erzählte, in dem sie auf der Kanzel der Schlosskirche zu Wittenberg stand und predigte. Ihr Mann lachte sie aus und tröstete sie damit, dass ja ihre Lieder im Gottesdienst gesungen würden. Erst 1959 stand zum ersten Mal eine Frau auf der Kanzel in Wittenberg. Da war Elisabeth Cruciger schon über 400 Jahre tot. Sie starb 1535 in Wittenberg.
Überliefert ist von ihr das Epiphanias Lied „Herr Christ, der einig Gotts Sohn“.
1. Herr Christ, der einig Gotts Sohn,
Vaters in Ewigkeit,
aus seim Herz entsprossen,
gleichwie geschrieben steht,
er ist der Morgensterne,
sein Glänzen streckt er ferne
vor andern Sternen klar;
Elisabeth Cruciger verbindet das biblische Zeugnis, die theologische Tradition, ihren tiefen Glauben und reformatorisches Gedankengut. In diesen fünf kurzen Versen steckt eine ganze Theologie. So singt sich diese erste Strophe wie eine bildreiche Übersetzung des Glaubensbekenntnisses. Christus ist Gottes Sohn, der einzige, Gottes einziggeborenes, geliebtes Kind, das vor aller Zeit war, immer schon, ewig. Gottes Herz, das für die Welt und mit der Welt schlägt, wird Mensch, inmitten der Welt.
Elisabeth Cruciger nimmt mit einem kleinen Nebensatz die ganze reformatorische Theologie auf: „gleichwie geschrieben steht“. Alle kirchliche Lehre, aller Glaube, unser Leben misst sich am Maßstab der Heiligen Schrift, an Gottes Wort in Menschengestalt, wie es in der Bibel aufgeschrieben steht. Das ist unser Orientierungspunkt. Gottes Wort. Und aus Gottes Wort wissen wir, dass Jesus Christus das Licht der Welt ist: der Morgenstern, der das Ende der Nacht ankündigt, einen neuen Tag, eine neue Zeit, heller als all die anderen Sterne, Orientierung für die Menschen, Gottes Weg für uns alle: Rettung für die Menschen. Der Himmel ist offen.
2. für uns ein Mensch geboren
im letzten Teil der Zeit,
dass wir nicht wärn verloren vor Gott in Ewigkeit,
den Tod für uns zerbrochen,
den Himmel aufgeschlossen,
das Leben wiederbracht:
Elisabeth Cruciger fasst zusammen, was Jesus für uns, für die Menschen, für dich und für mich getan hat: Gott wurde lebendig, ein Mensch wie wir, öffnet uns die Tür in die Ewigkeit, indem er mitten unter uns in der Zeit ankert, zerbricht die Macht des Todes durch seinen Tod am Kreuz und seine Auferstehung und schließt uns den Himmel auf. Wir haben ewiges, unvergängliches Leben, hier schon, indem wir Gott verbunden sind, mitten im Leben. Und wir können jene besonderen Augenblicke erleben, in denen Gott unsere Seele berührt und die Zeit entgrenzt, wenn wir jenseits der Schwelle des Todes morgendlich auferstehen und jubelnd „Leben“ rufen und in Gottes Gegenwart neue Lebendigkeit erfahren.
Das hat schon jetzt Auswirkungen auf unser Leben. Denn das Leben ist eine Reise, wenn wir wollen, eine Glaubensreise mit Gott, auf der wir wachsen und uns entwickeln. So hat Elisabeth Cruciger es sicher in ihrer Zeit als Nonne erlebt: Glaube wächst, und damit er wächst und uns auch im Alltag trägt, strecken wir uns immer wieder aus, nach Gott, nach seiner Liebe, nach der Erfahrung, die der Glaube schenkt.
3. lass uns in deiner Liebe und Kenntnis nehmen zu,
dass wir am Glauben bleiben,
dir dienen im Geist so,
dass wir hier mögen schmecken
dein Süßigkeit im Herzen
und dürsten stets nach dir.
Elisabeth Cruciger findet lebendige Worte für das, was der Glaube Menschen schenken kann, wenn wir uns danach ausstrecken und Gott immer wieder unser Leben hinhalten: die Liebe wächst und mit ihr eine Milde, mit uns selbst und unseren Mitmenschen. Wer auf sich selbst und auf die Menschen um sich herum im Licht der Gnade Gottes blickt, der kann Fehler verzeihen, Unvollkommenes annehmen und in der Welt in all ihrer Brüchigkeit das Wirken Gottes erkennen, der aus Fehlern Gutes werden lassen kann, der uns auch auf Irrwegen wachsen lässt und jedem Menschen seine Aufgabe im Leben gibt.
Konzentrierte Glaubenserfahrung spricht aus diesem Vers: Gott im Geist dienen, Gott begegnen, der Geschmack des Lebens in Fülle, Augenblicke voller Innigkeit, in denen Gott da ist und unsere Seele berührt, wie Honig im Herzen, wie Segen, der uns umfließt und erfüllt. Und dann zu mir selbst kommen: erfüllt sein, Gott war da, hier in meinem Leben, beschenkt sein, Gott hat mich berührt und zu mir selbst gebracht, weich sein, berührbar, offen. Was bleibt? Die wunderbare Erinnerung, ein Schritt, den ich auf meiner Lebens-Glaubens- Reise weitergegangen bin, und die Sehnsucht, der Durst. Komm wieder. Gott, geh den nächsten Schritt mit mir. Die Hände dankbar bittend zu Gott öffnen und sein Wunder erwarten. Gott ist da, bei mir, der Schöpfer aller Dinge.
Das Lied mündet in ein bittendes Bekenntnis:
4. Du Schöpfer aller Dinge,
du väterliche Kraft,
regierst von End zu Ende
kräftig aus eigner Macht.
Das Herz uns zu dir wende
und kehr ab unsre Sinne,
dass sie nicht irrn von dir.
Wer sonst als der Schöpfer könnte mit seiner väterlichen Kraft, die das Werden und Vergehen, den Anfang und das Ende umfasst, unser Leben ordnen? Wer sonst als der Herr der Geschichte könnte unser Herz so tief berühren, dass wir in ihm ein Zuhause und Heimat haben und den Zielpunkt unseres Seins?
Gott möge unser Sein, unser Herz, unser Wollen und Werden zu ihm kehren, den alten Menschen, der so sehr in all dem Weltlichen verfangen ist, schwächen, den neuen Menschen, der sich in Gott gründet und zu Gott ausstreckt, stärken und wachsen lassen.
5. Ertöt uns durch dein Güte,
erweck uns durch dein Gnad.
Den alten Menschen kränke,
dass der neu‘ leben mag
und hier auf dieser Erden
den Sinn und alls Begehren
Und G’danken hab zu dir.
So geht das: unser Leben Gott hinhalten, uns der Gnade Gottes anvertrauen, das Misslingen beklagen, Gott um seine Hilfe bitten und das Gute wachsen lassen, langsam, wie die Jahresringe an einem Baum, zu Gott hinwachsen, wie die Zweige, die sich mehr und mehr ausstrecken, Abbrüche verkraften, auf Gottes Schöpfermacht vertrauen, Ungutes abschütteln, sterben lassen, damit das Gute sich ausbreiten und wachsen kann und dann erfahren, wie wunderbar es ist, mit Gott zusammenzustimmen, dem Frieden zu dienen, der Gerechtigkeit zu folgen, das Leben zu feiern und das alles vor Gott zu tun, im Gebet, in unserem Denken, danke zu sagen, mitten im Alltag. Gott Raum in unserem Leben zu geben, jetzt und dann, wo ich auch bin, mit Gott im Gespräch sein und so mit Gott rechnen und ihm dann begegnen, da, wo ich bin.
Angelika Scholte-Reh
Starkes Gottvertrauen
Ein feste Burg ist unser Gott (EG 362)
(Gemeinde singt: EG 362,1-3: Ein feste Burg ist unser Gott)
„Ich kann es nicht mehr hören“, raunte Franziska mir zu, als wir nebeneinander in der Schlosskirche in Wittenberg saßen. Die Gemeinde hatte beim Sonntagsgottesdienst gerade die Nummer 362 aufgeschlagen und sang „Ein feste Burg ist unser Gott“. Wie erfolgreich sich Luthers wohl bekanntestes Lied in der ganzen Welt verbreitet hat, machte mir die Reaktion meiner jungen Gottesdienstbegleitung deutlich. Franziska stammt aus meiner früheren Vikariats Gemeinde in der Wetterau, dort war sie Teil der Jugendgruppe und hat den Kindergottesdienst geleitet. Nach ihrem Abi ist sie als Freiwillige für ein knappes Jahr mit dem sogenannten „Reformation Truck“, also einem Lastwagen, der zu einem Informationsmobil umgebaut wurde, durch Europa gefahren und ist dabei mit Menschen über die Reformation ins Gespräch gekommen. Und egal wo: Bei jedem Gottesdienst, bei jedem Empfang des Trucks wurde das gleiche Lied gespielt: Ein feste Burg. Mal klassisch mit Chor oder Bläsern, mal als Jazzversion, mal mit lateinamerikanischen Rhythmen. „Ich kenne sie alle“, meinte Franzi zu mir, während sie immer noch den Kopf schüttelte.
Was hat eigentlich dazu beigetragen, dass Luthers recht freie Psalmvertonung heute an keinem Reformationstag mehr wegzudenken ist – und damit notgedrungen auch das gesamte Gedenkjahr des Thesenanschlags dominiert?
Der doch etwas martialisch klingende Liedtext führt uns zurück ins Jahr 1529, als das Lied veröffentlicht wurde. Entstanden ist es wohl kurz davor, Luther fackelte normalerweise nicht lange: War ein Text gedichtet, eine Melodie komponiert, dann musste das Lied hinaus in die Welt. Wenn Luther dichtet: „Es hilft uns frei aus aller Not, die uns jetzt hat betroffen“, dann weiß er, wovon er schreibt: Die Pest wütete in Wittenberg, er selbst war gerade einer schweren Krankheit entflohen. Das christliche Europa sieht er von den Türken bedroht, der Papst und seine Getreuen setzen ihm immer mehr zu und zu allem Überfluss muss er sich mit den sogenannten Schwärmern und „Rottengeistern“, wie er sie nennt, also andersdenkenden Protestanten, auseinandersetzen. „Der alt böse Feind mit Ernst er’s jetzt meint; groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist“ – an Sorgen fehlte es dem Reformator in dieser Zeit wahrlich nicht.
Doch Luther blieb nicht bei der Beschreibung seiner Sorgen stehen. Er ist überzeugt: Es gibt ein Licht in dieser Dunkelheit, einen Ausweg aus der Sackgasse, einen Verteidiger vor dem bösen Feind. Dieser tritt in der zweiten Strophe auf: „Fragst du, wer der ist? Er heißt Jesus Christ, der Herr Zebaoth, und ist kein andrer Gott, das Feld muss er behalten.“
Hier wird Luthers spätes Verständnis von Christus deutlich. Während in früheren Lutherliedern (wie: Nun freut euch, liebe Christen gmein) Christus erst zur Hilfe eilen muss, ist er hier schon da. Die Rettung muss nicht erst erbeten oder gar erkauft werden: Sie steht dem Glaubenden schon bereit.
Darum kann Luther in Anlehnung an den Psalmbeter in der dritten Strohe ausrufen: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollte uns gar verschlingen“ – im Psalm heißt es: wenngleich die Welt unterginge und die Berge mitten ins Meer sänken – „so fürchten wir uns nicht so sehr, es soll uns doch gelingen“. Seinen Beistand fand er in Jesus Christus: In der Krankheit, als Erlösung von den depressiven Momenten während seiner Klosterzeit, auch als Trost nach dem Tod seiner Tochter Elisabeth, die kurz zuvor verstorben war. Bald wurde „Ein feste Burg“ deshalb auch als „kollektives Trost- und Vertrauenslied“ bezeichnet.
So weit, so klassisch. Doch was ist mit der vierten Strophe?
Seit ich im Studium begonnen habe, evangelische Gottesdienste zu leiten und mir über die Auswahl der Lieder Gedanken machen muss, stolpere ich über die vierte Strophe. „Nehmen sie (also die ungenannten bösen Mächte) den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie haben’s kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben.“ Wird hier also das große Vertrauen in Gott, das nun über drei Strophen hinweg entfaltet wurde, dadurch auf die Spitze getrieben, dass ähnlich wie bei Hiob der Teufel nicht nur sämtliche Besitztümer und die Ehre, sondern auch die Familie rauben darf – Hauptsache, mein Glaube an Gott bleibt unerschütterlich?
Wer ist mit „sie haben’s kein Gewinn“ gemeint? Und ist es im 21. Jahrhundert angebracht, Eigentum und die eigene Frau so miteinander zu vergleichen, wie es Luther vor 500 Jahren getan hat? Wenn ich einen Blick in die internationalen Gesangbücher werfe, merke ich, dass ich mit meinen Bedenken nicht alleine bin. Fast nirgendwo wird die Strophe wörtlich übersetzt. Im spanischen Text heißt es übersetzt: Sie können uns alles nehmen: Güter, unsere Namen, unser Haus, und sie können unseren Körper zerstören – das Reich Gottes wird immer bestehen bleiben. Oder selbst im englischen Text (im Gesangbuch der Evangelisch-Lutherischen Kirche in den USA) wird deutlich, dass es die bösen Mächte sind, die nicht gewinnen werden: Wo sie uns alles nehmen – sie können doch nicht siegen. Kein Wort von: „Lass fahren dahin!“
Und doch, einen neuen Zugang zu dieser vierten Strophe habe ich ganz überraschend bei der Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Namibia erhalten. Dort hielt der Chirurg Denis Mukwege aus dem Kongo den Hauptvortrag. Mukwege hat sich gut hörbar für Frauen eingesetzt, die unter sexueller Gewalt als Folge kriegerischer Konflikte leiden mussten. Gegenüber Machthabern und internationalen Vertretern machte er darauf aufmerksam, wie die Demütigung und gewaltsame Ausbeutung von Frauen von verschiedenen Gruppen als strategische Waffe in den kriegerischen Auseinandersetzungen Zentralafrikas eingesetzt wird.
Für seinen Einsatz erhielt er im Jahr 2018 den Friedensnobelpreis und wurde zugleich verfolgt: Er wurde angegriffen, seine Familie bedroht und einer seiner Mitarbeiter umgebracht.
In diesem Moment, so schilderte der Katholik Mukwege, sei ihm die vierte Strophe des Lutherliedes ganz nah gewesen. Bei der Frage, wie er mit dem Dilemma umgehen solle: Verantwortung gegenüber seiner eigenen Familie einerseits und die Verantwortung für die Wahrheit andererseits. Gemeinsam entschieden er und seine Familie sich dafür, das Land aus Sicherheitsgründen vorerst zu verlassen – deshalb aber nicht stumm zu werden gegenüber der Ungerechtigkeit, deren Zeuge sie täglich wurden.
Wie böse der Feind auch toben mag, ob die Berge auch ins Meer sänken, ein feste Burg ist unser Gott. Auch wenn ich immer noch zurückhaltend bin, die vierte Strophe des Lutherliedes singen zu lassen – ich erkenne dahinter ein großes Grundvertrauen. Vielleicht ist es diese Zuversicht, dass das Dunkel der Welt nicht das letzte Wort haben wird, die „Ein feste Burg“ zum Kennzeichen des weltweiten Luthertums hat werden lassen. Eine Zuversicht, auf die Martin Luther in seinen dunkelsten Momenten ebenso setzte wie Denis Mukwege angesichts zahlreicher Morddrohungen gegen ihn und seine Familie. Wie sauer sich der Fürst der Welt auch stellt: Das Reich muss uns doch bleiben.
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