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Jahreslosung 2012
Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.
(2. Korinther 12,9)
Auslegung und Arbeitsmaterial zum Jahreslosungsbild 2012 von Otmar Baulig
Gedichte
Am Ende
Ich will nicht
schwach sein,
nicht krank,
nicht am Ende.
Doch das Leben
spielt oft anders.
Und gerade da
ist Gott da.
Meine engen Grenzen
werden Gottes Land.
Er schreibt mit brüchigen Stiften
unendlich schöne Geschichten.
Reinhard Ellsel
Hoffnung
Das Maß der Hoffnung ist nicht die Überzeugung,
dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit,
dass etwas Sinn hat ohne Rücksicht darauf,
wie es ausgeht.
Und diese Hoffnung vor allen Dingen ist es,
die uns die Kraft gibt zu leben
und es immer wieder auf’s Neue zu versuchen,
sind die Bedingungen äußerlich auch noch so
hoffnungslos.
Vaclav Havel
Gedanken zu „Jesus Christus spricht: Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.” (2. Korinther 12,9)
Wer ist schon gerne alt oder gebrechlich, schwach oder kränklich? Wir orientieren uns lieber an den Starken und Schönen, an den Erfolgreichen und Mächtigen.
Für manchen überraschend wendet sich Gott aber gerade an die Menschen, die am Ende sind; am Ende ihrer Kraft; am Ende mit ihren Versuchen, das Leben zu meistern. Denen wendet sich Jesus liebevoll zu.
Denn wir leben nun einmal nicht in einem „Wolkenkuckucksheim“, sondern in einer Welt voller Hunger und Ungerechtigkeit, voller Leiden, Schwachheit und Tränen. In unsere Welt hinein, die so ist, wie sie ist, wurde Gottes Sohn geboren. Nicht die Sonnenseiten des Lebens will er aufhellen, sondern die Schattenseiten mittragen und erträglich machen.
Die Jahreslosung für 2012 spricht davon. Der Apostel Paulus hat dies am eigenen Leibe erfahren. Wie gerne wäre er gesünder und kräftiger. Wie gerne würde er als ein strahlender „Arnold Schwarzenegger“ den Rest der Welt von der Allmacht Gottes überzeugen. Sogar manche der jungen Christen werfen ihm vor, dass nur wenig Ausstrahlung und Vollmacht habe. Er sei ihnen zu dröge und komliziert.
Als „schwach empfinden auch heute manche die Ausstrahlung ihrer Kirchengemeinde und von „Gottes Bodenpersonal“, der Pfarrerin oder dem Pfarrer. Und tatsächlich ist es ein wahres Wunder, dass es die Christenheit nach fast 2000jähriger Geschichte voller Irrtümer und Schwachheiten noch gibt.
Schon Paulus hat am eigenen Leibe erfahren, dass Gottes Wege mitten in unsere Niedrigkeit und Schwachheit hineingeht. Für all unsere Unvollkommenheiten ist Jesus am Kreuz gestorben. Dort hat er unsere Erlösung vollbracht - auch die von Arnold Schwarzenegger, der in seinem Privatleben übrigens peinlich daneben getreten ist.
Unsere Aufgabe ist es, seine Erlösung anzunehmen. So kann die Kraft der Erlösung, die Gnade und die Liebe Gottes in unser Leben hinein wirken. Jesus gibt uns Mut, immer wieder aufzustehen. Er stärkt uns den Rücken, mit einer Krankheit zu leben. Er hilft uns, mit unseren Grenzen entspannt umzugehen.
Manchmal wird abschätzig gesagt: „Diejenigen, die in die Kirche gehen, scheinen es ja besonders nötig zu haben.“ Und ich möchte sagen: Genau so ist es. Allerdings: Ich kenne keinen, der es nicht nötig hätte.
Oder wissen Sie von einer Pflanze, die kein Licht bräuchte, um zu wachsen? das Bild zur Jahreslosung zeigt schwache Getreidehalme mit vollem Korn. Durch das Licht der Sonne sind sie herangewachsen, auf einem Boden voller Nährstoffe.
Das ist ein schönes Bild, wie Jesus die Schwachen mit seiner Kraft erfüllt. Er sagt: „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, der wird nicht wandeln in der Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ (Johannes 8,12)
Stellen wir uns in diesem Jahr 2012 bewusst in das Licht Jesu! Suchen wir die Verbindung mit seiner Kraft!
Geschichte
Eine Erinnerung steigt auf: Als Bub schlief ich neben dem Elternzimmer. Eines Nachts weckten mich Stimmen nebenan. Dann hörte ich, wie Vater aufstand und die Treppe zum Wohnzimmer hinunterging. Am Morgen erzählte er uns Kindern, was geschehen war. Zwischen ihm und einem Schwager hatte es vor langem Streit gegeben. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen. Sie schrieben einander nicht mehr. Der Kontakt war abgerissen. Dieser Unfriede raubte in jener Nacht unserem Vater den Schlaf. Er betete. Zusammen mit Mutter auch das Vaterunser. Da wurde ihm die 5. Bitte zur Barriere: „Und vergib uns unsre Schuld, wie auch wir vergeben …“ Er konnte nicht weiterbeten, stand auf, setzte sich an den Schreibtisch, griff zur Feder und bat seinen Kontrahenten um Verzeihung für die eigene Schuld, um Vergebung für die eigene Unversöhnlichkeit. – Ich habe es nicht vergessen: etliche Tage danach kam unser Onkel von weither angereist. Friede war eingekehrt. Nicht nur in beiden Familien, auch in den Herzen der beiden Männer. Sie blieben Freunde bis zu ihrem Tod.
Sage niemand, durch die Versöhnung einzelner sei ein Weltbrand nicht zu löschen. Von wem es stammt, weiß ich nicht, aber es ist wahr: „Im Frieden leben erfordert nicht große Worte – sondern viele kleine Schritte.“ Die vielen kleinen Schritte der vielen Christen in vielen Ländern. Dann wird neue Hoffnung blühen und das Unkraut der Ängste ersticken. Was hindert und, den ersten Schritt zu tun? Die Jünger haben die Friedens-Botschaft und Friedens-Tat ihres Herrn nicht für sich behalten. Sie haben sich auf den Weg gemacht, um sie weiterzusagen und weiterzutragen. So ist sie auch zu uns gekommen. Nun ist es unsere Sache, dass sie durch Wort und gelebtes Beispiel zu vielen anderen Menschen komme! In seinem Lobgesang hat Zacharias die Richtung gezeigt: „… Du wirst sein Volk das Heil erkennen lassen in der Verge-bung ihrer Sünden durch die herzliche Barmherzigkeit Gottes. Durch sie wird uns das Licht aus der Höhe besuchen, damit es denen erscheint, die in Finsternis und Schat-ten des Todes sitzen, und unsere Füße auf den Weg des Friedens lenkt.“ (Lukas 1, 77-79).
Nutzen wir die Zeit, die uns gegeben ist! Ein erster Schritt wäre, dass wir uns das Gebet von Franz von Assisi (Seite 65) zu Eigen machen und im Alltag praktizieren: „… dass ich Liebe übe, wo man sich hasst, … dass ich verbinde, da wo Streit ist, … dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält, … dass ich dein Licht anzünde, wo die Finsternis regiert, … dass ich Freude mache, wo der Kummer wohnt.“ Lasst und das im Namen Jesu tun. Denn dann kann Friede werden, wenn Jesu Liebe siegt!
Die Liebe Jesu Christi zu uns – was ist das?
Jesu Liebe,
das ist die Liebe, die aus der Ewigkeit kommt und auf die Ewigkeit zielt. Sie hängt nicht an zeitlichen Dingen, sondern sie umfasst uns, weil wir ewig sein sollen. Sie lässt sich durch nichts hindern, sie ist Gottes ewige Treue zu uns.
Jesu Liebe,
das ist die Liebe, die keinen Schmerz, keinen Verzicht, kein Leiden scheut, wenn es dem anderen hilft. Es ist die Liebe, mit der er uns um unseret Willen geliebt und daher auf Erden den Spott und Hass der Menschen auf sich geladen hat.
Jesu Liebe,
das ist die Liebe, die das Kreuz auf sich nimmt.
Jesu Liebe,
das ist die Liebe, die uns liebt, so wie wir sind. Wie eine Mutter ihr Kind liebt, so wie es ist und es je mehr liebt, je größere Not es ihr bereitet, weil sie weiß, dass es ihre Liebe braucht, so ist die Liebe Jesu zu uns. Er nimmt uns an, so wie wir sind.
Jesu Liebe,
das ist die Liebe, die uns alle Sünden vergibt; die uns unzählige Male verschont mit gerechten Strafen, die unzählige Male unsere Sünden bedeckt.
Jesu Liebe,
das ist die Liebe, die täglich für uns betet und eintritt.
Jesu Liebe,
das ist die ewige Liebe Gottes, des Vaters, zu uns. Haben wir sie nicht oft erfahren?
Interview mit Krankenhaus-Seelsorger Martin Feuersänger
Ich möchte, dass Menschen ihre Lebensgeschichte aus der Perspektive des Glaubens sehen.
Sie sind jetzt schon viele Jahre Krankenhausseelsorger. Es begegnen Ihnen sicher bei dieser schwierigen Aufgabe auch Menschen, die sich aufgrund Ihrer Diagnose mit dem Sterben auseinandersetzen müssen. Kann man Menschen in dieser Lage überhaupt konkrete Hilfe anbieten?
Helfen kann ich einem sterbenden Menschen oder einem Schwerkranken nicht. Den letzten Weg muss jeder Mensch selbst gehen, und die Last der schweren Krankheit kann ich niemanden abnehmen. Aber ich kann Menschen für eine kurze Zeit auf ihrem Weg begleiten und Anteil an ihrer Situation nehmen. Ich höre zu, wenn sie von ihrer Krankheit sprechen oder, was viel häufiger geschieht, aus ihrem Leben erzählen. Dabei wird oft deutlich, was diesen Menschen wichtig war und was sie auch jetzt noch trägt und hält. Das kann ich aufnehmen und verstärken. Ich möchte, dass Menschen ihre Lebensgeschichte aus der Perspektive des Glaubens sehen und entdecken, was Gott ihnen Gutes geschenkt hat und wo er ihnen auch in schweren Zeiten nahe war. Ich sage den Menschen, dass Gott ihnen auch auf ihrem letzten Weg na-he ist. Dieser Zuspruch kann ein Gebet, ein Bibelwort oder ein Segen sein.
Verhalten sich Menschen, die bewusst an Gott und seinen Sohn Jesus Christus glauben, in dieser Situation anders?
Auch fromme Menschen sind nicht gerne krank. Auch Menschen, die bewusst an Gott und seinen Sohn Jesus Christus glauben, werden durch eine schlimme Diagnose erst einmal kräftig aus der Bahn geworfen. Die Angst vor dem Sterben ist menschlich. Aber für Christen bricht mit einer schlimmen Krankheit nicht gleich die ganze Welt zusammen. Die Krankheit kann ihnen die Augen öffnen, wie sehr sie von Gott gehalten werden, wenn andere Sicherheiten und Selbstverständlichkeiten wegbrechen. Christen, die nicht nach dem Motto leben „Hauptsache gesund“, fällt es leichter, auch mit einer Krankheit oder einer Einschränkung zu leben. Menschen, die Gott ihr Leben immer wieder neu anvertrauen und in seine Hände legen, wissen, dass sie im Leben und im Sterben zu Gott gehören. Sie gehen durch den Tod hindurch heim zu Gott.
Oft beten wir für Menschen, die schwer erkrankt sind, und bitten Gott um deren Heilung. Haben Sie schon Wunder erlebt, die auch von Ärzten und Pflegern staunend wahrgenommen wurden?
In meiner Praxis als Krankenhausseelsorger habe ich so etwas noch nicht erlebt. Wohl erinnere ich mich an eine Patientin, die von der wundersamen Heilung ihrer Krebserkrankung erzählte. Menschen der Gemeinde hatten für sie gebetet und ihr die Hände aufgelegt, und bei der nächsten Untersuchung war das Krebsgeschwulst nicht mehr zu sehen. Die behandelnden Ärzte hatten dafür keine Erklärung. Das neue Testament kennt die Gabe der Krankenheilung. Der Heilige Geist gibt auch heute Menschen den Auftrag und die Vollmacht, in Namen Gottes Kranke zu heilen. Diese Gabe ist ein Geschenk Gottes, das mit Verantwortung und gemäß Gottes Willen gebracht werden soll. Für Kranke und Sterbende beten, dürfen und können alle Christinnen und Christen.
Gibt es ein Bibelwort, das Sie und die Betroffenen stärkt?
Menschen erzählen mir ihre Lebensgeschichte und da besonders von schweren und bitteren Erfahrungen wie der eigenen Krankheit, dem Verlust lieber Menschen oder von Kriegs- und Fluchterlebnissen. Dabei denke ich oft, dass Gott diesen Menschen viel Schweres zugemutet, er ihnen aber auch die Kraft gegeben hat, die Lasten zu tragen. Diese Erfahrung finde ich in einem Vers aus Psalm 68,20 schön ausgedrückt: „Gelobt sei der Herr täglich. Gott legt uns eine Last auf, aber er hilft uns auch.“ Wenn ich diesen Vers in das Gespräch einbringe, finden viele Patientinnen und Patienten das als eine gute Deutung ihrer eigenen Erfahrungen.
Das Interview mit Martin Feuersänger führte Wolfgang Schultes.
Gedicht: Christen und Heiden
Menschen gehen zu Gott in ihrer Not,
flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot,
um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod.
So tun sie alle, alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not,
finden ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn ihn verschlungen von Sünde,
Schwachheit und Tod.
Christen stehen bei Gott in Seinem Leiden.
Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not,
sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot,
stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod,
und vergibt ihnen beiden.
Auslegung zum Text der Jahreslosung – „Die Gnade genügt”
Schnell waren wir an diesem Abend ins Gespräch vertieft. Was ist Schwäche, was ist Stärke? Hierzu können auch junge Menschen schon viel sagen, denn es scheint die Kategorie zu sein, die vom Kindesalter an unser Leben bestimmt. Sehr nachdenklich wurden wir im Jugendbibelgesprächskreis jedoch, als eine Teilnehmerin von einer Freizeit berichtete, an der sie als Konfirmandin vor ein paar Jahren teilgenommen hat. Alle, die an Gott glaubten, wurden aufgefordert, an einem Abend von ihrem Bekehrungserlebnis zu berichten: als Mut machendes Zeugnis für alle anderen.
Tagelang fieberte sie auf diesen Abend hin, denn sie wusste nicht, was es da zu berichten gab. Immer größere Zweifel quälten sie, ob sie wirklich an Gott glauben würde, so ganz ohne Bekehrungserlebnis. Konnte sie sich die Blöße geben und sagen: „Ich glaube zwar an Gott, aber ich weiß gar nicht so genau, seit wann.“ Sie hat an diesem Abend gar nichts gesagt. Und sie zweifelt bis heute an ihrem Glauben. Ist das Stärke oder Schwäche?
Näher konnten wir nicht mehr an unseren Vers herankommen. Mit ebendiesem Kon-flikt setzt sich Paulus auseinander. Was macht einen Apostel zum Apostel? Welche Stärken, Referenzen und Erfahrungen muss er mitbringen, um von den Christen zu Korinth überhaupt ernst genommen zu werden?
Es waren hohe Erwartungen, die die Korinther an die stellten, die sich Apostel nannten. Sie mussten über ein hohes Maß an Weisheit verfügen, sie mussten überzeugend reden können, sie mussten die Gabe der Zungenrede besitzen und möglichst viele Geist-Erfahrungen geltend machen können. Alles in allem ging es darum, sich selbst darzustellen, um so die apostolische Autorität und Überlegenheit begründen zu können.
Auf dieses Spiel lässt sich Paulus nicht ein. Für ihn wäre es eine Verkehrung des Evangeliums. Wo kämen wir hin, wenn Menschen interessanter wären als die Botschaft, die es weiterzusagen gilt? Wo kämen wir hin, wenn unsere Stärken und Begabungen ausreichen würden, um vor Gott bestehen zu können? Der Tod Christi am Kreuz wäre sinnlos gewesen! Denn wenn sich die Menschen durch ihre eigenen Taten vor Gott selbst rechtfertigen könnten, wären wir nicht auf die Gnade Gottes angewiesen.
Doch genau dies stellt Paulus immer wieder in den Mittelpunkt seiner Verkündigung. Wir leben einzig uns allein davon, dass Gott uns nicht danach beurteilt, was wir im Leben erreichen, sondern dass es von sich aus bereit ist, uns unsere Schuld und Verfehlungen zu vergeben, unabhängig von unseren Stärken und Schwächen, eben allein aus Gnade.
Für Paulus steht fest, dass er sich gar nicht selbst vor den anderen profilieren muss, zumal Gott in seinem Handeln auch gar nicht auf seine Stärken angewiesen ist. Auch bedeuten Schwäche und Leiden keine Trennung von Gott, wie es häufig verstanden wird. Vielmehr sind sie oft der Ort, wo die Gnade Gottes besonders spürbar wird. Hier hat Paulus seine Erfahrungen gemacht. Die Gnade hebt die Schwächen nicht auf. Aber sie sind untrennbar verbunden mit der Kraft Gottes – genauso wie der Schatten an eine Lichtquelle gebunden ist.
Uns im Bibelgesprächskreis hat dies erleichtert. Es ist uns bewusst geworden, wie relativ die Begriffe „stark“ und „schwach“ gebraucht werden. Sie sind immer an Vergleiche gebunden und geben individuelle oder gesellschaftliche – auf jeden Fall menschliche – Normen wider. Da ist es gut zu wissen, dass Gott sich nicht in diese menschlichen Kategorien fassen lässt.
Unsere Schwächen, aus menschlicher Sicht, sehen für Gott ganz anders aus. Hier zählen keine Normen, sondern nur die Beziehungen. Wir brauchen unser Christsein nicht in besonderen Erlebnissen und Erfahrungen zu beweisen. Auf keinen Fall muss man, um Christ zu sein, auf das besondere Erlebnis warten. Und wenn es gar nicht darum geht, sich selbst profilieren zu müssen, braucht man sich seiner Schwächen auch nicht zu schämen. Die Gnade allein genügt!
Diese Andacht wurde vom Jugendbibelgesprächskreis der Evangelischen Kirchengemeinde Vluyn gemeinsam erarbeitet.
Alternativen des Christseins
Ich erinnere mich eines Gespräches, das ich vor 13 Jahren in Amerika mit einem französischen jungen Pfarrer hatte. Wir hatten uns ganz einfach die Frage gestellt, was wir mit unserem Leben eigentlich wollten. Da sagte er: „Ich möchte ein Heiliger werden.“ Das beeindruckte mich damals sehr. Trotzdem widersprach ich ihm und sagte ungefähr: „Ich möchte glauben lernen.“ Lange Zeit habe ich die Tiefe dieses Gegensatzes nicht verstanden. Später erfuhr ich und erfahre es bis zur Stunde, dass man erst in der vollen Diesseitigkeit des Lebens glauben lernt. Wenn man völlig darauf verzichtet hat, aus sich selbst etwas zu machen – sei es einen Heiligen oder einen bekehrten Sünder oder einen Kirchenmann, eine sogenannte priesterliche Gestalt, dann wirft man sich Gott ganz in die Arme, dann nimmt man nicht mehr die eigenen Leiden, sondern wacht man mit Christus in Gethsemane, und ich denke, das ist Glaube, das ist Umkehr. Und so wird man ein Mensch, ein Christ.
Unser Leben mit Sang
Rachel Anderson erinnerte sich, wie sie im Alter von acht Jahren mit ihrer Mutter in der Wochenschau eine Reportage über den Koreakrieg gesehen hatte. Soldaten brachten Dorfbewohner aus der Kampflinie und halfen ihnen auf einen Lastwagen. Dann folgte in Großaufnahme ein kleiner Junge, der nackt auf der staubigen Landstraße saß. Er war allein zurückgeblieben und weinte. Die kleine Rachel hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Sie fragte ihre Mutter, was sie tun könne, um verlassenen Kindern im fernen Asien zu helfen. Die Mutter sagte nur: „Bete für sie.“
So schloss Rachel in ihre Gutenachtgebete die Jungen und Mädchen ein, die im Koreakrieg auf der Landstraße zurückgelassen wurden. 29 Jahre später nahm Rachels Leben eine überraschende Wendung. Da wusste sie, dass Gott ihre Bitte nicht vergessen hatte.
Zwölf Jahre lang hatte es bei uns zu Hause immer ein kleines Kind gegeben. Aber im Herbst 1978 ging für Donald, unsern Jüngsten, die Kindergartenzeit zu Ende. Er konnte sich schon die Schuhe binden und seinen Namen schreiben. Damit hörten für uns alle die Jahre mit kleinen Kindern auf.
David, mein Mann, und ich hatten oft davon gesprochen, ein Kind zu adoptieren. Wir waren nur nicht sicher, ob wir es finanziell verkraften würden; David unterrichtete am College Französisch, und ich arbeitete als freie Schriftstellerin. Unser Wunsch war jedoch sehr stark, ebenso unser Gottvertrauen und der Glaube, dass jedes Kind etwas Besonderes ist. Wir schrieben zuerst einmal sechs Adoptionsagenturen an.
Die Antworten waren allesamt enttäuschend. „Neue Anträge können wir nicht mehr annehmen … Es haben sich vor Ihnen schon zu viele Familien gemeldet …“
Aber wir wurden zu einem Kurs für angehende Adoptiveltern eingeladen, den das Sozialamt veranstaltete. Ein Sachbearbeiter rief uns an und erläuterte das Programm. „Sie werden die rechtliche Seite einer Adoption kennenlernen, einem Film anschauen und ein Kinderheim besuchen“, sagte er. „Wenn alles gut geht, dauert das Adoptionsverfahren nur ein Jahr.“
Ein Jahr! – dachte ich. Wir wollen unser Kind jetzt!
Unsere zwölfjährige Tochter Hannah sagte: „Wenn wir ein Kinderheim besichtigen müssen, gehe ich lieber nicht mit. Ich will andere Kinder nicht anstarren. Ich will nicht, dass sie denken, wir wollen eines von ihnen kaufen.“
Auf den Treffen für angehende Adoptiveltern ging es recht zwanglos zu. Blätter mit „zur Adoption freigegebenen Kindern“ wurden zu unserer Information herumgereicht. Am Ende des Kurses erklärten die Sozialarbeiter, sollten wir uns ein Kind aus diesen Listen aussuchen. Die Sache ähnelte wirklich dem Einkauf, den Hannah als wider-wärtig empfand. Außerdem waren wir enttäuscht darüber, dass viele Kinder, die man uns zeigte, schon so groß waren.
Wieso waren sie jetzt plötzlich „freigegeben“, vor zehn oder zwölf Jahren aber nicht? Man konnte uns darüber keine Auskunft geben.
Beim nächsten Treffen sprach uns Joy, eine Sozialarbeiterin im weitgeschnittenen Kleid, während der Kaffeepause an. „Sind Sie beide an einem Baby interessiert?“, fragte sie. Wir hatten und ein Baby aus dem Kopf geschlagen, seit uns klargeworden war, wie gering die Aussichten waren. Wir dachten jetzt mehr an all die Acht- und Neunjährigen. Doch ein Baby ist eher wie ein eigenes Kind. Als wir so unverblümt gefragt wurden, sagten wir beide „Ja“. Dann zeigte sich, dass keine Babys auf den Listen standen. Hinterher hatten wir das Gefühl, dass Joy uns auf den Zahn fühlen wollte.
Im darauffolgenden Jahr führten wir wegen unseres Adoptionsversuchs rund 200 Telefongespräche, besuchten 20 Kinderheime und nahmen an 20 Treffen teil. Unterdessen zog sich der Adoptivelternkurs weiter in die Länge. Wir lernten viele Fachausdrücke und erfuhren, wie leicht man sich im Dickicht der Bürokratie verfangen kann.
Trotzdem verschwand während der ganzen Zeit nie der Wunsch nach einem weiteren Kind. Mir war, als sagte Gott leise zu uns, dass wir weitersuchen sollten. Aber es gab Augenblicke, da wünschte ich, er spräche etwas lauter und deutlicher.
Am 4. März 1980 hatte ich ein sonderbares Gefühl. Irgendetwas trieb mich, Joy anzurufen. Als ich nicht durchkam, fühlte ich mich bedrängt, es weiter zu versuchen. Ich wusste gar nicht, was ich sagen sollte, wenn die Verbindung zustande käme. Ich folgte nur instinktiv dem Bedürfnis, mit Joy zu sprechen.
„Entschuldigen Sie, dass ich störe“, begann ich. „Ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern …“ Sie erinnerte sich nicht. Ich erzählte ihr, wir seien eines der Ehepaare aus dem Kurs. Plötzlich wusste sie wieder Bescheid. „Sie wollten ein Baby, nicht wahr?“ – „Ja, ursprünglich schon.“ Ich redete weiter und erklärte ihr, Alter und Nationalität würden jetzt für uns keine Rolle mehr spielen. „Wie wäre es“, fragte sie, „mit einem neunjährigen Jungen?“ Sprach sie etwa von einem ganz bestimmten Kind? Ich zitterte. Meine Hand zuckte so, dass ich kaum den Hörer halten konnte.
Zu schön, um wahr zu sein
Mit wehendem Kleid segelte Joy in die Küche unseres Hauses in Canterbury in Südostengland herein. Sie händigte uns das Foto des Jungen mit der Geste aus, mit der eine Hebamme in Neugeborenes überreicht. „Er gehört jetzt ihnen“, sagte sie.
Wir hefteten das Foto an die Wand. Es zeigte einen kleinen Asiaten mit hellbrauner Haut, rosigen Backen und dichtem schwarzen Haar. Ein hübsches Kind – wäre da nicht der große, unförmige Mund mit der aufgeworfenen Oberlippe, dem entzündeten Zahnfleisch und den schiefstehenden Zähnen gewesen. „Der sieht aus wie der Alptraum eines Zahnarztes“, behauptete unser zweites Kind, der zehnjährige Lawrence, als er mit seinem sechs Jahre alten Bruder Donald aus der Schule kam.
„Er hat Tiere sehr gern“, berichtete Joy. „Er ist Vietnamese und heißt Sang, gesprochen Schang.“ In den letzten fünf Jahren hatte er im Kinderheim gelebt. In einem zwei Seiten langen Bericht schrieb die Heimleiterin, Sang sei bei Spiel und Sport recht geschickt. Er könne selbst auf sich aufpassen und helfe gern im Haushalt. Lesen könne er noch nicht, liebe aber Bücher. Da er bis zum Alter von drei Jahren stark vernachlässigt worden sei, besuche er eine Sonderschule, habe aber gut aufgeholt. „Er zeigt offen seine Gefühle und sehnt sich, ohne es selbst zu wissen, nach familiärer Geborgenheit.“
Abgesehen von den schrecklichen Zähnen schien es fast zu schön, um wahr zu sein. Als aber das Wochenende nahte, an dem wir ihn kennenlernen sollten, meldeten sich Zweifel und bohrende Ängste. Wollten wir wirklich einen Vietnamesen? Donald erklärte, zwei Jungen, das sei gerade die richtige Zahl für eine Familie, drei seien zuviel. David sagte, wir müssten weiter für ihn beten, dann würde schon das Richtige geschehen.
Am Sonntagmorgen fuhren wir zum Kinderheim. Die Heimleiterin war rundlich und nicht mehr die Jüngste. Wir unterhielten uns über alles Mögliche, nur nicht über Waisen und Adoption. Schließlich hörten wir im Flur ein Geräusch. Sang stand scheu im Eingang. Er sagte nichts, lächelte nur. Er war so klein, so zerbrechlich. Er war zudem etwas unbeholfen, konnte die Füße, die in nicht zugebundenen Schuhen steckten, nicht still halten. Auch mit Händen und Armen fuchtelte er ständig herum. Er sprach undeutlich, und wir konnten ihn kaum verstehen.
Niemand erwähnte den Zweck des Besuchs. Wusste der Junge nicht, was wir mit ihm vorhatten? Schließlich sagte Sang: „ Ein Tak i au Mam un Papa habe.“ Was meinte er? Eines Tages werde auch ich Mama und Papa haben.
„Sang“, sagte ich, „dürfen wir deine Freunde sein?“ Ich wage nicht, „Eltern“ zu sagen. „Und möchtest du uns zu Hause besuchen?“ Sang bejahte. „Möchtest du ein Bild von uns, damit du nicht vergisst, wie wir aussehen?“ Er suchte sich ein Foto aus, und Lawrence half ihm, es über seinem Bett zu befestigen. Dann also tschüs, wir sehen uns bald wieder. Es war inzwischen dunkel – Zeit für uns, ins Auto zu steigen und heimzufahren.
„Na?“ fragten wir uns gegenseitig. „Was meint ihr? Sollen wir ihn adoptieren?“ Wir alle hatten auf diesen Augenblick so lange gewartet. Lawrence meinte: „Er ist süß.“ Hannah sagte: “Ja.“ David wandte ein: „Aber wir können wir eine Beziehung zu einem Kind herstellen, das nicht sprechen kann? Wie sollen wir uns mit ihm verständigen?“ – „Babys sprechen auch nicht“, sagte ich. „Und doch machen sie sich verständlich. Vielleicht liegt es nur daran, dass er keine Kinderreime vorgesprochen und Gutenachtgeschichten erzählt bekommen hat.“ Erschöpft lehnte ich mich zurück, bis nach Hause war es eine lange Fahrt. Mir fiel eine Bemerkung ein, die eine Sozialarbeiterin Wochen zuvor in unserem Adoptivelternkurs gemacht hatte. „Es wird sie überraschen“, sagte sie uns damals, „wie befriedigend es für sie sein wird, dem Kind zu helfen.“
Wochenendbesuche
Freitag, 21. März. Das Haus war aufgeräumt und auf Sangs Besuch vorbereitet. Er sollte übers Wochenende kommen, und während ich auf ihn wartete, merkte ich, dass ich den Tränen nahe war. Wir wünschten und so, dass alles gut gehen würde. Sang war das niedliche Kind geblieben, das wir in Erinnerung hatten. Er plapperte fröhlich (obwohl ich ihn nicht verstand), während ich mit ihm einen Rundgang durchs Haus machte und ihm das Etagenbett zeigte, in dem Lawrence und er schlafen sollten. Ich erklärte, wo die Spielkiste war. Ich zeigte ihm den Garten und deutete auf die Narzissen, die sich gerade öffneten. Er lächelte zu allem und hielt meine Hand.
Später stellten Sang und Donald eifrig Spielzeugfiguren auf: Menschen und Pferde, Hunde und Zäune. Dann verkündete Sang: „I hed bade.“ Er musste es mehrmals sagen, bevor wir es verstanden. Er wollte jetzt baden. Ich ging mit ihm nach oben. Trotz allem, was der Zweiseitenbericht behauptet hatte, konnte er sich nicht allein ausziehen. Er wusste nicht, dass er das Hemd aufknöpfen musste, auch nicht, dass er erst die Schuhe ausziehen musste, um aus den Hosen herauszukommen; so hatte er sich schnell verheddert.
Ich hatte nicht damit gerechnet, dass auch Donald baden wollte. Aber er trottete hinter uns her, zog sich ruhig aus und kletterte ebenso fröhlich in die Badewanne, wie wenn Lawrence darin gesessen hätte. Sang rieb sich Gesicht und Brust mit einem Stück Seife ein. Zwei kleine Jungen zu baden, der eine blond, der andere dunkel, war ein ganz besonderes Vergnügen. Doch der Rest des Wochenendes wurde strapaziös. Sang wollte, dass ich von morgens bis abends in seiner Nähe blieb. Auch die anderen Kinder stellten Forderungen. David und ich waren entschlossen, niemand zu benachteiligen, bloß weil Sang so viel mehr Beachtung brauchte. Aber alle Kinder zusammen – das ging fast über unsere Kräfte.
Sang hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wie es in der Welt zuging. Offenbar ahnte er nicht einmal, weshalb er bei uns zu Besuch war. Lawrence fragte ihn rundheraus: „Würdest du nicht gern hier wohnen und zu unserer Familie gehören? Sodass meine Mutti auch deine Mutti wäre?“ Sang rechnete sichtlich nicht damit, dass seine Heimmutter das erlauben würde. „Die dann himpft. Sie nit ladde.“ – „Natürlich lässt sie dich. Sie will ja, dass du eine richtige Familie bekommst.“ – „Nein, die himpft, nit ladde.“
Lawrence und Hannah wollten ihm Mut machen, erklärten ihm aber, dass er natürlich das Recht habe, sich für das zu entscheiden, was er wolle. Diese kleinen Idealisten! Glaubten an Demokratie und Wahlfreiheit! Hatte er irgendetwas von dem begriffen, was sie ihm sagten?
Gemeinsam mit Joy arrangierten wir, dass Sang an den Wochenenden zu uns kam und während der Osterferien zehn Tage bei uns blieb. Wenn wir eine geeignete Schule gefunden hatten, sollte er zu Beginn des Sommers zu uns ziehen. Die Besuche waren anstrengend. Hinterher waren wir jedes Mal erschöpft. Doch wenn er nicht da war, fehlte er uns.
Trotz der Forderungen, die er an uns stellte, hatte er Hochstimmung und Zuversicht in die Familie gebracht – das Gefühl, dass wir alle gemeinsam dasselbe Ziel ansteuerten: Sang liebzugewinnen.
Sang trug seine „Diefel“ (Stiefel) am liebsten den ganzen Tag über, gewöhnlich am falschen Fuß. Mit Vorliebe stapfte er an meinem Arm durch die Stadt und erzählte dabei unverständlich, laut und ohne sich unterbrechen zu lassen. Wie hübsch er war mit dem glänzenden Haar und den rosigen Backen.
Allmählich hatten wir uns an seine schiefen Zähne gewöhnt. Aber es fiel uns auf, dass irgendetwas mit seinen Füßen nicht stimmte. Den einen zog er beim Gehen leicht nach. Überrascht, dass wir die Ursache nicht erkannt hatten, klärte Joy uns auf: Es war die Folge einer Rachitis, ebenso wie seine Hühnerbrust.
Dass er den ganzen Tag in Gummistiefeln herumlief, war sicher nicht gut für die Füße. Ich kaufte ihm Schnürstiefel. Niemand aus dem Heim verlor darüber ein Wort. Wir schlossen daraus, dass wir jetzt die Verantwortung für ihn übernehmen konnten. An einem Samstag hatten wir ein Picknick geplant. Aber morgens kam Sang in seinen neuen Schuhen mit offenen Schnürsenkeln zu uns ins Zimmer, um uns mitzuteilen: „Regen.“
Am Sonntagmorgen kam er wieder herunter, sprang zu uns ins Bett und erklärte: „Toll! Sonne heint! I mache Sonne!“ Er versuchte die Vorhänge zu öffnen. „Guck, i mache.“
Lawrence berichtete uns später, wie Sang im Etagenbett unter ihm „die Sonne gemacht“ hatte: Er hatte zu ihr gesprochen, wie ein General seine Truppen kommandiert. Die Sonne hatte den Befehl erhalten zu scheinen. Die Sonne gehorchte und versteckte sich während unseres Picknicks nicht hinter den Wolken. Als es anschließend regnete, fuhren wir heim und bauten aus Zahnpastaschachteln Raumschiffe. Das heißt, Donald baute eines. Sang, der nicht wusste, wie man mit Schere, Klebeband und Karton umgeht, bekam eines gebaut.
Beunruhigender Zwischenfall
David sah sich nach einer geeigneten Schule um. Man hatte uns gesagt, Sang würde schnell genug aufholen, sodass er mit elf Jahren auf eine normale Schule könne. Zwei Lehrer der Grundschule, in die Lawrence und Donald gingen, sagten, sie würden Sang gern in ihre Klasse aufnehmen. Aber David hatte das Gefühl, dass Sang an einer Sonderschule besser aufgehoben sei.
Die Lehrer dort waren verständnisvoll und hilfsbereit. Man war einverstanden, ihn als unseren Sohn mit unserem Namen aufzunehmen, obwohl er noch nicht adoptiert war. Der Rektor zeigte sich verhalten optimistisch. „Neun Jahre? Nein, da ist es noch nicht zu spät. Viele unserer Kinder hier sind Pflegekinder. Sie brauchen viel Zuwendung, wenn sie weiterkommen sollen. Nein, neun ist nicht zu spät. Aber er ist ein Problemkind, nicht wahr?“ – „Problemkind?“ Das ärgerte mich. Wieso überhaupt? Er hatte doch jetzt uns – oder?
Aber als David mit den vier Kindern und ein paar Freunden von ihnen ins Kino ging, wo ein Raumfahrtabenteuer für Kinder lief, lernten wir an Sang das Dunkle und Fremde kennen, das Problematische, das dem Rektor aufgefallen war. Vielleicht hatten wir es in unserer Begeisterung zuvor gar nicht sehen wollen. Vielleicht hatten wir es in unserer Naivität aber auch ebenso wenig wahrgenommen wie die Rachitis. In der Dunkelheit des Kinos schaukelte Sang auf seinem Sessel zuerst kaum merklich hin und her, dann immer stärker und schließlich mit einer solchen Gewalt, dass bald die gesamte Sitzreihe wackelte. Den ganzen Film hindurch lärmte er und schnitt Grimassen. „Ich wollte meinen Arm um ihn legen“, sagte David. „Er wurde so heftig, dass ich dachte, er bekommt einen Anfall. Er war völlig außer sich und merkte nicht, was er tat. Es war schlimm.“
Zu Hause redete Sang noch immer schnell und zusammenhanglos und hopste ruckartig mit fuchtelnden Armen herum. War das ein für Heimkinder typisches Verhalten? fragten wir uns. Warum hatte uns niemand darauf aufmerksam gemacht? Konnten wir mit ihm noch einmal ins Kino gehen? „Wahrscheinlich braucht er einen Psychiater“, sagte David halb im Scherz. „Oder eine gute, stabile Familie“, konterte ich.
Und wirklich, je besser wir Sang kennenlernten, desto mehr fühlten David und ich, dass wir – und nur wir – ihm all das bieten konnten, was er sonst nicht bekam: Ansporn, Geborgenheit, ein reiches, sinnvolles Leben.
Möglich, dass auch andere Menschen ihn gern hatten, doch bei dem häufig wechselnden Heimpersonal konnte sich wohl kaum eine persönliche Zuneigung herausbilden.
Wenn er zu Besuch kam, war sein dichtes Haar auf dem Hinterkopf verfilzt wie ein Vogelnest; Strähne für Strähne musste ich erst mühsam auskämmen. Meine anderen Kinder hätten dabei wahrscheinlich ziemlich lautstark protestiert oder sich der lästigen Prozedur widersetzt. Sang beklagte sich nie.
Liebe und Tatkraft
Es war schwer für die anderen Kinder, die Eltern ständig mit Sang teilen zu müssen. Manchmal, wenn Sang auf meinem Schoß saß und Unverständliches erzählte, fing Donald an zu plappern, als wäre er drei. Statt näher zu mir zu kommen und seinen Anteil an Beachtung einzufordern, schlich er sich weg. Doch wenn es dann ans Abschiednehmen ging, sagte Donald aus vollem Herzen: „Schade, Sang, dass du nicht bleiben darfst.“ Auch Lawrence meinte gewöhnlich: „Hoffentlich ziehst du bald zu uns.“
Eines Tages kam Joy, um mit uns zu besprechen, wann Sang zu uns ziehen würde. Sang wurde klar, dass Joys Besuch irgendwie mit ihm zu tun hatte. Kaum war sie weg, geriet er in einen Begeisterungstaumel. Er rannte die Treppe rauf und runter und redete mit dem Tempo eines Schnellfeuergewehrs. „Diede neue Mampap!“, brüllte er. „Stimmt, aber lass uns erst mal zu Mittag essen, ja?“ – „Nit hiebeibe! Diede neue Mampap!“ – „Na schön, aber ich kann dir nicht helfen, eine neue Mami und einen neuen Papi zu suchen, und gleichzeitig das Mittagessen kochen.“ Seine Übererregtheit verwandelte sich in Wut. Er warf sich auf den Boden, krümmte sich und brüllte nach „neue Mampap“. Hannah kam zu mir und sagte leise: „Er ist völlig außer sich. Was sollen wir machen?“
David aß mit den Kindern im Nebenzimmer. Ich bückte mich und versuchte Sang in den Arm zu nehmen, aber er ließ es nicht zu. Und doch suchte er sichtlich meine Nähe. „Habe bald neue Mampap.“ Ich versuchte weiter, den Arm um ihn zu legen. Da musste doch noch ein Rest von Zuneigung sein. Dann flüsterte ich ihm eine Geschichte ins Ohr, die ich mir erst ausdachte, während ich sie erzählte. „Ob du die Geschichte wohl kennst, Sang?“ – „Diede neue.“ – „Von einem kleinen Jungen, etwa neun Jahre alt?“ – „Egal.“ – „Der sich eine neue Mami und einen neuen Papi wünschte?“ – „Quats.“ – „Also, es waren einmal eine Mami und ein Papi, eine ganz liebe Mami und ein ganz lieber Papi, die wünschten sich einen Jungen ganz für sich allein.“ – „Quats.“ – „Er sollte immer bei ihnen wohnen. Sie wollten kein neun Jahre altes Mädchen, kein acht Jahre altes Mädchen und auch kein acht Jahre alten Jungen. Sie wünschen sich einen Jungen von neun Jahren. Aber hätten sie sich nicht auch über ein kleines Kind gefreut? Etwa zwei Jahre alt? O nein! Ein kleines Kind wollten sie nicht. Aber vielleicht neun Jahre alte Zwillinge?“
Sang wand sich voller Unruhe erneut auf meinem Schoß. „Egal.“ – „Nein, neun Jahre alte Zwillinge sollten sie nicht.“ Erleichterung. Er hörte auf, sich zu winden, und hielt ganz still, das zornig bleiche Gesicht erwartungsvoll nach oben gerichtet. „Sie wünschen sich einen neun Jahre alten Jungen. Eines Tages trafen sie eine Frau, die sagte zu ihnen: ‚Ich kenne den richtigen Jungen für Sie. Er ist genau neun Jahre alt, hat ein liebes Gesicht und lächelt immer. Er hat schwarzes Haar und spielt gern Fußball. Und er ist sehr mutig und stark.’“ Ein Anflug von Interesse. „Da fragten die nette Mami und der Papi: ‚Wie heißt er?’ ‚Ach’, sagte die Frau, ‚das habe ich vergessen. Es ist ein Name, der mit S beginnt. Jetzt weiß ich’s wieder: Er heißt Sang.’“ – „Dad i.“ – „Ja, das warst du.“ Er lächelte und stand auf. „I nit taurich, ich glücklich. Jetz Mittagesse.“ Hand und Hand gingen wir zu den anderen. Dank einer so einfachen Geschichte. Sang konnte nicht genug davon bekommen, er ließ sie sich wieder und wieder erzählen.
Stimmungsumschwünge
Im Mai 1980 rief Joy an und teilte uns mit, dass Sang nun für immer zu uns kommen würde – in der Ausdrucksweise der Sozialfürsorge: „in Pflegschaft mit Aussicht auf Adoption“. Wellen des Glücks und der Besorgnis schlugen über mir zusammen. Sang traf ein und umklammerte seine Habe: zwei Plastikbeutel mit den verschiedensten Dingen, aber keine Spielsachen, keine Bücher, keine Stofftiere oder irgendwelche persönlichen Besitztümer. Als ich seine Sachen einräumte, tat mir das Herz weh bei dem Gedanken an all die Kinder, die in Heimen lebten.
Ganz am Anfang nannte Sang mich gewöhnlich „Bitte Mi“ und David war „Große Mann.“ Ich erklärte ihm, dass ich nicht „Bitte, Miss“ heiße. „Du kannst mich nennen, wie du magst“, sagte ich zu ihm. „Für die anderen bin ich Rachel, Tante Rachel, Liebling, Mami oder Mutti.“
„I sagen Mam“, erklärte Sang. „Er heiß Papa.“
Das Verantwortungsgefühl, das David und ich nun für unsern neuen Sohn entwickelten, war der Beginn einer inneren Bindung. Wir sorgten dafür, dass er sich nie langweilte, und lasen ihm eine Menge vor. Seine Hauptbeschäftigung bestand darin, Fragen zu stellen, doch die Antworten darauf vergaß er gleich wieder.
Er konnte sich nur kurz konzentrieren. Wir machten uns Gedanken wegen seiner Busfahrt zur Schule, die hin und zurück jedes Mal eine Stunde dauerte. Nachmittags, wenn ich auf seine Rückkehr wartete, herrschte im Haus gespannte Atmosphäre.
Was für ein Kind würde heute aus dem Bus steigen? Ein lächelnder kleiner Junge, der mich umarmen und flüstern würde: „Mam, i hab dich lieb!“ Oder ein wilder Bengel, der wortlos an mir vorbeistürmt, jeden Kontakt verweigert und ihn doch gleichzeitig verlangt?
Sangs Stimmungsumschwünge kamen aus heiterem Himmel. Eines Samstagmorgens stöhnte und schrie er ununterbrochen. Zum ersten Mal griff er David und mich körperlich an, sobald wir uns ihm näherten. Er kratzte und stieß mit den Füßen so unbändig um sich, dass wir ihm die Schuhe wegnehmen mussten, aus Angst, er könne sich damit selbst mehr Schmerz zufügen als anderen. Während der Anfälle wusste er offenbar nicht, was er tat, doch liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Urplötzlich setzte die Entspannung ein. An eben diesem Samstagabend schlief Sang nach einem 90minütigen Wutanfall zum ersten Mal durch. Wurde er wenigstens ein bisschen vernünftig? Würden wir endlich zu einer Familie zusammenwachsen?
Kein Zweifel, sagte ich mir immer wieder, für Donald war Sang geradezu ideal – ein älterer Bruder und ständiger Spielgefährte, der Donalds Ehrgeiz dämpfte, es den Großen gleichzutun. Er und Sang konnten die albernen Spiele spielen.
Doch es fiel schwer, einem Neunjährigen ein Verhalten durchgehen zu lassen, das man als süß oder niedlich empfunden hätte, wäre Sang drei oder vier Jahre gewesen. Beim Essen sprang er auf, rief: „Ei, fui, fui!“ und lief weg. Oder er schlich sich von hinten an jemand heran und versetzte ihm ohne ersichtlichen Grund einen Schlag.
Sein rüpelhaftes Benehmen steckte an. Als mein Mann Donald aufforderte, etwas aufzuheben, was er auf den Teppich hatte fallen lassen, weigerte sich Donald. „Warum ich?“ David gab ihm einen Klaps hintendrauf. Donald protestierte wütend: „Das ist unfair!“
Auch Hannah und Lawrence beschuldigten uns, ungerecht zu sein. Sang stelle viel schlimmere Sachen an als Donald, sagten sie. Warum würde bei Sang dauernd eine Ausnahme gemacht? Aber wie Sang gerecht werden und trotzdem für alle die gleichen Regeln gelten lassen?
Eines Nachmittags, als Sang aus dem Schulbus ausstieg, wollte ich festbleiben. Jemand hatte ihm eine Rolle Drops geschenkt, und er lutschte einen nach dem andern. Am Teilen war Sang nicht sonderlich interessiert. Also ermahnte ich ihn: „Sang, wenn in dieser Familie jemand Süßigkeiten hat, dann gibt er den anderen ab.“ – „Nein!“, entgegnete er und stopfte sich zwei weitere Drops in den Mund. „Aber es ist habgierig, Drops zu lutschen, ohne anderen etwas davon anzubieten.“ – „Egal“, erwiderte Sang, kam zu mir und gab mir einen Kuss. Damit hatte er ohne viel Aufhebens das Thema gewechselt und futterte weiter seine geliebten Bonbons.
Eine andere Gelegenheit zu einem Verweis ergab sich, als Lawrence las und Sang ihn plötzlich an den Haaren zog. Ich brachte Lawrence in sein Zimmer schloss die Tür, damit er in Ruhe lesen konnte Sang fühlte sich durch mein Eintreten für Lawrence zurechtgewiesen. Das brachte ihn in Rage. Er rollte sich auf dem Boden wie ein Baby zusammen und heulte los: „I nit bleibe. I nit lebe hier. I nit dein Freund.“ – „Nein, auch ich bin nicht dein Freund“, entgegnete ich fest. „Ich bin deine Mutti.“Es musste erst einmal lernen, was den Freund von einer Mutter unterscheidet, musste lernen, dass eine Mutter anders als ein Freund nicht weggeht, und wenn man noch so böse auf sie ist.
„Guck, dad bin i, Papa!“
Ein Maßstab für Sangs Fortschritte waren die gelegentlichen Ausflüge zum Strand. In der allerersten Woche, in der bei uns war, fuhren wir mit ihm hin; damals wich er keinen Schritt von unserer Seite. Bei jedem Ausflug war ein kleines bisschen kühner, wagte es eher, mit dem anderen von einer niedrigen Mauer zu springen oder dort entlangzulaufen, wo sich die Wellen brachen.
Freunde fragten mich beim Anblick der vier Kinder: „Wie kommen denn Hannah, Lawrence und Donald mit ihm zurecht?“
Die Einstellung der Kinder zu Sang und zu allem, was sich durch ihn zu Hause verändert hatte, war bemerkenswert tolerant. Als Hannah einmal gefragt wurde: „Was denkst denn du über den Jungen, den sich seine Eltern ins Haus geholt haben?“, erwiderte sie: „Ich denke überhaupt nichts; er ist mein Bruder.“
Doch wir wussten so wenig über ihn, und was man uns berichtet hatte, passte nicht zu seinem tatsächlichen Verhalten. Es war nicht nur sein Schreien und dass er manchmal völlig außer sich geriet. Es war auch sein Unvermögen, mit den einfachsten Dingen des täglichen Lebens fertig zu werden. Er konnte nicht mit Messer und Gabel essen. Er konnte sich nicht allein anziehen. Obwohl er gern Schnürschuhe trug, ließ er immer die Schnürsenkel schleifen. Als wir ihm zeigten, wie man sie richtig zubindet, wickelte er sie wie eine Ballerina um die Fesseln und verknotete sie dann vorn fünf- oder sechsmal, sodass man sie nicht wieder aufbekam.
Um wenigstens eine grobe Vorstellung von seinem bisherigen Leben zu gewinnen, versuchten wir Einzelheiten über ihn in Erfahrung zu bringen. Joy fand heraus, dass Sang – eines von Tausenden verlassener Kinder in Vietnam – im April 1975 nach England gekommen war. Eine Londoner Zeitung hatte damals eine Luftbrücke für Waisenkinder finanziert. Er gehörte einer seltenen Spezies an: ein anerkannter staatenloser Flüchtling, der keine Papiere besaß, die über ihn hätten Auskunft geben können. Zusammen mit andern Kindern kam er in ein Heim.
Sangs Alter war ein Rätsel. Als wir seine Zähne richten ließen, fragte uns die Zahnärztin, wie alt er sei. Er sei neun, antworteten wir. „Sind sie sicher?“, fragte sie. Später entdeckten wir, dass man ihn in einem Waisenhaus in Saigon im Alter zurückgestuft hatte, weil seine frühe Entwicklung zu langsam verlaufen war. Er könne zwölf gewesen sein, als wir ihn das erste Mal sahen. Um ihn nicht zu verunsichern, beschlossen wir, es bei den neun Jahren zu belassen.
Darüber, wie Sang ins Waisenhaus von Saigon gekommen war, gibt es zwei Versionen. Die eine besagt, dass er auf der Straße von einem Polizisten aufgelesen, die andere, dass er im Waisenhaus selbst auf unerklärliche Weise ausgesetzt worden sei. Besuch von Verwandten bekam er nie. Ein Bekannter, der sich als Kriegsberichterstatter in der Stadt aufgehalten hatte, erzählte uns von Bombenangriffen in der Nähe von Saigon, die die Erde beben ließen. Sang muss – das schlossen wir aus seinem oft heftigen Verhalten und aus Alpträumen, in denen er aufschrie – Gewalt kennengelernt haben. Als ich einmal seine Lehrerin aufsuchte, zeigte sie mir eine von Sangs Zeichnungen. Auf denen der anderen Kinder waren bunte Blumen und eine lachende Sonne abgebildet. Sangs Bild war ganz und gar schwarz mit einem winzigen roten Fleck; das war Sang selbst. Die Lehrerin sagte dazu: „Er nennt das Bild ‚Leute töten’.“
Doch über Sangs frühe Kindheit konnten wir nichts in Erfahrung bringen, was erklärt hätte, wieso kein Tag und keine Nacht verging, ohne dass er sich nass machte, oder wieso es ihm schwerfiel, das Essen nicht zu verschütten. Wir fanden keine Erklärung dafür, wieso er, kaum dass er gelernt hatte, die Uhr abzulesen oder eine Tür zu öffnen, beides schon vergessen hatte und man es ihm immer wieder von Neuem zeigen musste.
Man hatte uns darauf aufmerksam gemacht, dass Adoptivkinder manchmal in ihrer Entwicklung zurückfallen. Aber war dieses ständige Verlernen nun der erwartete Rückfall, war es Widerspenstigkeit, ein Kulturschock oder was sonst? Man hatte uns auch gesagt, die ersten drei Monate seien die „Flitterwochen“ einer Pflegschaft, weil sich alles so gut anlasse. Wenn das erste Vierteljahr für uns leicht gewesen sein soll – was in aller Welt würde dann noch auf uns zukommen?
Sang erklärte uns häufig: „Ein Tag i Mampap suche.“ Aber es gab Anzeichen dafür, dass er bleiben wollte, weniger durch das, was er sagte, sondern mehr durch das, was er tat.
Obwohl er nicht lesen konnte, malte er eifrig unseren Familiennamen ab, lernte ihn auszusprechen und auch mehr oder weniger richtig zu buchstabieren. Dann tauchte der Name nach und nach in winziger Krakelschrift an den Wänden unseres Hauses auf, genau in Sangs Augenhöhe. Jeder neue Namenszug war im Grunde eine Bekräftigung seiner Absicht, nun bei uns zu bleiben.
Er sah sich unsere Fotoalben an und fragte immer wieder, wer dies sei und wer das sei – gerade so, als versuchte er, sich jedes Gesicht und jede Altersstufe einzuprägen. „Dad Papa kleiner Junge. Dad, Mampap heiraten. Dad Hannah Baby. I nit hier, wenn Hannah Baby.“
Er war enttäuscht, dass es von ihm keine Fotos gab. Ich erzählte ihm, wir hätten von ihm nur ein einziges Foto aus der Zeit, bevor er bei uns war. Als er das Bild zum ersten Mal im Album entdeckte, sagte er aufgerecht: „Dad bin i! Dad bin i, Papa!“
Erschreckende Diagnose
Ein Monat nach dem andern verging, ohne dass sich an Sangs Verhalten viel änderte. Wir gewöhnten uns nur immer mehr daran. Mit wilder Hartnäckigkeit durchstand er die schwierigen Perioden, in denen er wütend und unbeherrscht war, sich Kratzwunden zufügte, bis sie sich entzündeten, und den Kopf gegen die Wand schlug. Zwischendurch war er lustig, zärtlich, großzügig, liebenswert, laut und oft allem Anschein nach glücklich. Er sagte immer die Wahrheit oder das, was er dafür hielt.
Eines Tages kam er aus der Schule und verkündete: „Heute i bei Bachlehrin.“ (Man hatte ihn einer Sprachtherapeutin vorgestellt.)
Kurz darauf suchte uns die Therapeutin auf. Sie wolle nachforschen, sagte sie, ob es im Vietnamesischen irgendeinen Anhaltspunkt dafür gebe, dass Sang bestimmte Laute nicht richtig aussprechen könne. Dann fügte sie nachdenklich hinzu, als erwarte sie, dass ich ihr recht gäbe: „Wir müssen uns wohl darauf einstellen, dass ein geistig behindertes Kind wie Sang nur langsam Fortschritte macht, nicht wahr?“ – „Geistig behindert?“ Das war wie ein Schlag ins Gesicht. „Sang hat viel durchgemacht“, wandte ich ein. „Trotzdem ist er nicht gerade sehr – nun ja – aufgeweckt, nicht wahr?“, erwiderte sie. „Aber er ist ein niedliches Kind. Und er hatte Glück, dass er Sie gefunden hat.“
Als sie gegangen war, legte ich mich hin. Ich fühlte mich krank und schäumte vor Wut. Dann kamen die Tränen.
Am Abend redeten David und ich uns die Köpfe heiß. Bis hetzt waren geistig Behinderte immer die anderen gewesen; mit uns hatte das nichts zu tun, bildeten wir uns ein. Aber dann schaute eine Freundin mit ihrer dreijährigen Tochter vorbei. Die Kleine setzte flink ein Puzzle zusammen, an dem Sang ein Jahr erfolglos herumprobiert hatte. Da begriff ich, dass es wirklich nicht nur seine Unausgeglichenheit war, was ihn hinderte, wie andere Kinder zu lernen.
Als sich der Gedanke an eine geistige Behinderung in unseren Köpfen eingenistet hatte, fanden wir ihn auf Schritt und Tritt bestätigt: Sangs grundloses Grinsen, sein unmotiviertes Lachen.
David machte sich Vorwürfe, weil er die Anzeichen nicht erkannte hatte. Er hatte eine Ausbildung als Lehrer. Doch was nützten all die theoretischen Kenntnisse, wenn ihm die Symptome nicht einmal an eigenen Sohn auffielen? „Ich hätte es wissen müssen!, rief er. „Jedes Mal, wenn ich hörte, wie du versucht hast, ihm das Lesen beizubringen. Immer wieder dasselbe, Tag für Tag. Sogar ein Blinder hätte gemerkt, was da los ist!“
Als ich endlich begriff, dass sich Sangs Behinderung nicht aus der Welt schaffen ließ und auch noch so viel liebevolle Fürsorge sich nicht auf seine Intelligenz auswirken würde, machte der Schmerz mich krank. Ich litt unter Migräne und Alpträumen.
Wie wir hörten, hatten auch andere Eltern bei der Entdeckung, dass ihr Kind hirngeschädigt ist, reagiert, als hätten sie die Nachricht von seinem Tod erhalten. Als der Schock nachließ, seien sie zornig darüber geworden, dass ihnen der Schach- oder Fußballspieler oder die Stütze ihrer alten Tage, die das Kind hätte werden sollen, genommen worden war.
Wir machten und schließlich klar, dass unsere Enttäuschung uns nicht weiterbrachte. Stattdessen mussten wir uns auf das konzentrieren, was Sang tatsächlich tun konnte. Wenn es uns schon schmerzte, den Jungen mit seinen kleinen Absonderlichkeiten zu lieben – wie müsste dann erst Gott zumute sein bei dem Gedanken, sich auf die Menschheit mit ihrem millionenfachen Versagen eingelassen zu haben?
Nach über einem Jahr war Sang noch immer nicht adoptiert. Doch uns schien es wichtig, ihm nichts von dem vorzuenthalten, was uns bei unsern andern Kindern selbstverständlich war. Deshalb beschlossen wir, ihn taufen zu lassen. Dies wäre eine Gelegenheit, der Öffentlichkeit mitzuteilen, dass er ein festes Mitglied unserer Familie ist, zwar nicht vor dem Gesetz, wohl aber vor einer höheren Autorität: nämlich vor Gott.
Sang hatte schon dreimal eine Taufe bei Vettern und Freunden miterlebt, konnte sich aber nicht daran erinnern. Wir verbrachten einen Nachmittag beim Geistlichen und gingen die Antworten in einer sehr einfachen Sprache durch, sodass Sang sie verstand. Am Sonntagmorgen stand Sang nachdenklich und ernst am Taufstein und versprach laut, „Jedud lieben, mi leid tut, wenn i nit gud, lad Jedud Godd mi liebe.“
Vielleicht sah auch er in seiner Taufe nicht nur die öffentliche Aufnahme in die Familie der Christenheit, sondern gleichzeitig die ersehnte Eingliederung in unsere Familie. Nach der Feier sagte er zu David und mir: „Jetzt beibe für imme.“
Sangs Begeisterung für den Kirchgang wuchs von Woche zu Woche. Während er früher herumgezappelt war, sollte er nun stehen, wo er die andern stehen sah, wollte knien, wo sie knieten. Eifrig stapfte er zum Altar, um sich den Segen erteilen zu lassen.
So fand er seinen Weg
Die Schule machte Sang offenbar Spaß, doch die langen Fahrten mit dem Schulbus mochte er nicht. Inzwischen war er nach unserer Rechnung elf Jahre alt. Wir überlegten, ob er nicht den anderthalb Kilometer langen Weg zwischen Elternhaus und Schule hin und zurück zu Fuß bewältigen könnte. Seine Lehrerin meinte auch, dass wir es auf einen Versuch ankommen lassen sollten.
Ein Polizist beschrieb uns die sicherste Route. Da Sang nicht lesen konnte, hatte es keinen Zweck, ihm die Straßennamen einzutrichtern. Und da er nur undeutlich sprechen konnte, würde er auch nicht in der Lage sein, nach dem Weg zu fragen. Er durfte sich einfach nicht verlaufen. An den Wochenenden gingen wir immer wieder haargenau dieselbe Strecke ab. „Schau, jetzt gehen wir an dem Kaufhaus vorbei, wo wir die Ballons gekauft haben.“ Das nächste war die Feuerwache, wo der Vater eines Klassenkameraden beschäftigt war. Dann das Polizeirevier.
An dem Morgen, als er der erste Mal allein ging, trödelte er zunächst. Alle paar Meter drehte er sich um und winkte ausgiebig. Was nur, wenn er nicht mehr weiterwusste? Oder an den Kreuzungen zu warten vergaß und in die Autos hineinfiel? David war sogar noch besorgter als ich. „Meinst du nicht, dass ich ihm sicherheitshalber folgen sollte?“, fragte er. Wir wussten aber beide, dass es nicht heimlich geschehen dürfte. Die Zeit verging im Schneckentempo, bis wir um 9:30 h in der Schule anriefen. „Ja“, sagte man uns, er sitze wohlbehalten im Klassenzimmer, und natürlich werde man dafür sorgen, dass jemand ihn nach der Schule in die richtige Richtung schicke.
Hochzufrieden mit sich traf Sang zu Hause ein. Seit er regelmäßig die drei Kilometer marschierte, schlief er besser. Wir alle schliefen besser.
Der Erfolg des Experiments beruhte zur einen Hälfte auf Sangs Mut und zur andern auf der Hilfsbereitschaft von Menschen in der ganzen Stadt. „Gestern habe ich Ihren Jungen gesehen“, sagte die Frau in der Bäckerei. „Ich winke ihm immer zu.“ Bekannte und Kollegen hatten ein wachsames Auge auf ihn.
Aber nicht jeder war erfreut über den Anblick eines zurückgebliebenen Jungen, der die Straße entlang torkelte. Eine Horde Halbwüchsiger machte sich einen Spaß daraus, ihn jedes Mal aufzuziehen, wenn er an der Bushaltestelle vorbeikam.
Lawrence beobachtete das eines Tages und machte Sang ein Kompliment wegen seiner Selbstbeherrschung. „Die waren wirklich gemein zu ihm“, erzählte er mir. „Die riefen ihm Namen wie Ching Ching Chinese nach schrien, dass er auf die Hilfsschule geht.“ – „Aber du hast dich genau richtig verhalten, Sang“, erklärte ihm Lawrence. „Er hat sie nicht beachtet und ist weitergegangen. Das waren wirklich große Jungen, Mutti. Dass Sang das geschafft hat! Ich hätte das nicht gekonnt.“
Im nächsten Jahr, als sein Selbstvertrauen zunahm, kam Sang nicht immer auf demselben Weg nach Hause. Doch trotz des Fortschritts tat er sich mit dem Lernen schwer. Er konnte einfach nicht lange genug stillsitzen, um Hausaufgaben zu erledigen. Wie also ihn dazu bringen, wenigstens ein paar Bilder in einem schmalen Buch zu betrachten? Uns blieb nur die Bestechung. Wir brauchten eine Menge Kekse und Bonbons und Küsse und mussten jede Ablenkung vermeiden.
Dennoch bestand ich darauf, dass wir täglich etwas lasen, wenn auch mehr, damit ich das Gefühl hatte, etwas für ihn zu tun. Vielleicht verbesserte es doch seine Kon-zentrationsfähigkeit, wenn wir ihn dazu brachten, ein paar Minuten stillzusitzen; vielleicht würde er dann doch eines Tages auf Bildern die ihm vertrauten Gegenstände erkennen und ihren Namen lernen.
Ich hoffte Sang klarzumachen, dass alles um uns herum einen Namen hatte und dieser Name immer derselbe blieb. Ein Bad hieß immer Bad und wurde nicht, wie Sang vermutete, durch Zufall zu Schlafenszeit oder Schlafanzug.
Eines Nachmittags hatten wir eine Fibel vor uns, aufgeschlagen bei dem Bild „F für Flugzeug“. Sang, der auf meinem Schoß saß, riss plötzlich meinen Zeigefinger weg und bog ihn so weit nach hinten, dass es mir vor Schmerz den Atem verschlug. In dem Augenblick begriff ich, dass er jetzt auf Bilder reagierte – vor Flugzeugen am Himmel hatte er eine fürchterliche Angst.
Allmählich verstand er auch, was Eigentum ist. Wir merkten es daran, dass er nach und nach ein „S“ in alle seine Bücher kritzelte. Und wir merkten auch, dass er nun bei einer Geschichte zuhörte. Obwohl er den Handlungsablauf nicht mitbekam, lasen wir ihm weiter jeden Tag etwas vor, und schließlich gab es doch so etwas wie einen Durchbruch. Sang hatte eine Schwäche für Schuhe; seine Stiefel behielt er immer noch am liebsten den ganzen Tag über an. In einem Buch, aus dem wir vorlasen, kam ein Mr. Magnolia vor, der mit einem einzigen Stiefel herumlaufen musste, bis ein liebes Kind einen zweiten Stiefel für ihn auftrieb, der aber nicht zum ersten passte. „Diefel! Diefel wie i!“, rief Sang aufgeregt, als er die Geschichte zum ersten Mal hörte. Er hatte den Bogen zwischen Fiktion und Wirklichkeit, zwischen Mr. Magnolias Stiefeln und seinen eigenen geschlagen. Freudentränen traten mir in die Augen und tropften auf das aufgeschlagene Buch.
Ein wunderschönes Weihnachten
Das Einzige, was Sang an Weihnachten gefallen hatte, war, dass er Geschenke bekam. Aber damit wollte ich ihn nicht länger eindecken. So beschloss ich im Jahr 1981, ihn statt zum passiven Empfänger zum aktiven Teilnehmer zu machen. „Dieses Jahr“, sagte ich, „treffen wir beide die Weihnachtsvorbereitungen, wir machen das gemeinsam.“
Wir gingen nach einem zwölfteiligen „Weihnachtskurs für Mütter“ vor. Dazu gehören das Anfertigen von Weihnachtskarten und das Einwickeln von Geschenken. Nachdem wir gelernt hatten, wie man den Päckchen eine geheimnisvolle Form geben kann, die keine Rückschlüsse auf den Inhalt zulässt oder die das Geschenk besonders gut zur Geltung bringt, packten wir das schwierigste Problem an, das Schenken. Eines Sonntags während des Essens holte Sang eine kleine Holzente aus der Spielzeugkiste, wickelte sie sorgfältig in rosa Seidenpapier und überreichte sie meinem Mann. „Das is fü dich, Gesenk.“ Dann verlangte Sang sie zurück, wickelte sie aus und schenkte sie mir. „Fü dich. I senken.“ Wieder und wieder praktizierte er das gleiche Ritual – erst bekam David die Ente, dann ich. Babys und Kleinkinder haben Vergnügen an diesem Spiel; unermüdlich schenken sie einem Elternteil oder einem Besucher ein Spielzeug, fordern es zurück und geben es einen andern. David warf mir einen gequälten Blick zu. „Das ist doch was für Zweijährige, nicht wahr?“, flüsterte er mir zu. Ja, gewiss. Aber ist nicht die Freigebigkeit eines kleinen Kindes höher zu bewerten als das eigennützige Verhalten eines Jugendlichen, der nicht teilen will?
In der Schule bereitete Sangs Klasse ein Krippenspiel vor; Sang sollte einer der drei Könige sein. Es war eine Art Belohnung dafür, dass er im Unterricht nicht mehr weinte. Er musste eine Rolle lernen, doch als wir ihn fragten, was für eine, sagte er, es sei zu schwierig zu erklären, wir sollten abwarten und es uns ansehen.
In dem Weihnachtsbuch, das er und ich anfertigten, zeichnete er eine Figur, die eine Robe und eine Krone trug. Er forderte mich auch, darunterzuschreiben: „Das bin ich. Sang ist der König.“
Wenn man ein paar Kinder durch die Grundschule begleitet hat, dann hat man etliche Weihnachtsaufführungen gesehen. Doch ob das eigene Kind nun ein Schaf mit einer Glocke darstellt, einen Engel einen Weisen aus dem Morgenland oder die Jungfrau Maria – jedes Mal ist es, als sähe man die Geschichte zum ersten Mal. Am Nachmittag vor der Aufführung schlug mir vor Aufregung das Herz bis zum Hals. Ich wünschte Sang so sehr, dass er alles richtig machen würde. Der Saal war gedrängt voll. Sang trat auf, barfuß, in seinem Ornat aus Brokatvorhang und Pappkrone, sein Geschenk aus Goldfolie in zitternden Händen. Er war ein wunderschöner König, ehrfurchtsvoll und ernst. Als er schließlich bei dem kleinen behinderten Mädchen mit der Puppe in der Krippe angelangt war, wartete ich gespannt und besorgt auf seinen Text. „Ich bringe Gold“, sagte er ruhig und deutlich. Er hatte es richtig hingekriegt. Danach sprach ich die Frau an, die neben mir saß. Ich wollte, dass sie wusste, dass jeder es wusste: „Mein Sohn hat einen der drei Könige gespielt, den mit dem Gold..“ Als ich sie fragte, ob ihr Kind auch mitgewirkt habe, stellte sich heraus, dass sie ein Gast war. Die Vorstellung, ihr Kind könne eine Sonderschule besuchen, empfand sie offenbar als Zumutung. Wahrscheinlich ahnte sie nicht, wie viel Sang an diesem Nachmittag geleistet hatte.
Am Weihnachtsmorgen kletterten die Kinder zu uns ins Bett und öffneten ihre Strümpfe. Sang zog einen Beutel mit Schokoladentalern heraus und ließ ihn in der Runde herumgehen. Freudig bot er den andern seine Süßigkeiten an, damit sie sie probieren konnten.
Halleluja! Was für ein Weihnachtswunder!
Wachsende Sorgen
Weil man Sang im Alter zurückgestuft hatte, setzte die pupertäre Phase bei ihm scheinbar beunruhigend früh ein. Die tiefe Stimme passte nicht zu dem Jungen, der im Sandkasten spielte.
Als es auf seinen 13. Geburtstag zuging, wuchs offenbar seine Angst vor dem Erwachsenwerden. Immer wieder sprach er davon, dass er in diesem Jahr nicht Geburtstag haben wollte; er wollte keinerlei Veränderung.
Mich fraßen die Sorgen fast auf. Auch wenn Sang nicht so stark zurückgeblieben war, dass man ihn ständig im Auge behalten musste, so brauchte ich doch nur zu sehen, wie er mit leerem Gesichtsausdruck in die Gegend starrte oder mit einem Stück Holz auf einen Stuhl einschlug, um mit Bangen an seine Zukunft zu denken. Drei Wochen brauchte ich zum Beispiel, um ihm die Handhabung des Dosenöffners zu zeigen, damit er die Katze füttern konnte, was er gern tat. Am Ende der vierten Woche hatte er völlig vergessen, wie man die Dose aufbekommt. Wir fingen wieder ganz von vorne an.
„Was soll nur werden“, sagte ich zu David, „wenn er die Schule hinter sich hat? Was um Himmels willen machen wir dann?“ – „Wir werden weiter für ihn dasein“, erwiderte er. „Genau wie jetzt.“ – „Aber seine Ausbildung. Er kann doch nicht den ganzen Tag zu Hause sein.“
„Wir werden schon das Richtige finden“, versicherte David. Leichter gesagt als getan, dachte ich. Aber Davids Zuversicht war in diesem Punkt stärker als meine.
Sang hatte zwar nur ein schwach ausgeprägtes Zeitgefühl, wusste aber, dass auf 14 die 15 und auf 15 die 16 folgte. Er hatte das Recht, bis zum Alter von 19 Jahren auf der Schule zu bleiben, aber keiner an der Schule war länger als bis 16 geblieben. Sang sah, wie die großen Jungen von der Schule abgingen, einer ungewissen Zukunft entgegen. Aus Sangs Gesichtskreis waren sie verschwunden, und nun gab es sie nicht mehr. „Also, es dauert nicht mehr lange, bis du die Schule verlässt“, erklärten wir ihm mit Bestimmtheit. „Etwas mehr als ein Jahr. Du brauchst dir aber keine Sorgen zu machen. Du glaubst doch, dass Papa und ich alles für dich tun werden, was in unsern Kräften steht? Gut. Das nennt man Versprechen. Also solange Papa und ich noch fit sind, so lange …“
Wie auch die andere zurückgebliebene Teenager war Sang lieber mit Erwachsenen zusammen; sie gaben sich gewöhnlich besondere Mühe, auf ihn einzugehen. Doch er musste sich Gleichaltrigen gegenüber behaupten lernen. David überlegte, wie er Sang helfen könne, die Welt kennenzulernen, und warf schließlich die Frage auf: „Wie wär’s mit einem Job? Beispielsweise samstags? Hannah und Lawrence hatten auch Jobs angenommen: Zeitungen austragen und babysitten. Aber war das etwas für einen Halbwüchsigen, der weder lesen noch mit Geld umgehen konnte und nicht einmal aus der näheren Umgebung allein nach Hause fand? Für Sang eine Beschäftigung zu suchen war wohl aussichtslos. Doch nach einer zufälligen Begegnung sah das plötzlich anders aus.
Glücksfall
Einen Glückspilz konnte man Sang wirklich nicht nennen. Familie, Nationalität, Gesundheit und Heimat zu verlieren – das ist alles andere als Glück. Und doch stand sein Leben offenbar unter einem guten Stern. David und ich vergaßen manchmal, dass wir ihn nicht allein aufzogen, sondern dass da noch viele unbekannte Engel im rechten Augenblick zur Stelle waren. Einer hieß Chris. Chris war eine frühere Kollegin von David. Sie hatte gerade ein Fitnesscenter eröffnet und gab Kurse für alle Altersgruppen, von Kindern bis zu Senioren. „Wir würden auch gern etwas für geistig Behinderte tun“, sagte sie, als sie David durch die Räume führte. Chris wusste nicht, dass David Vater eines behinderten Kindes war. In der Hoffnung, hier einen Kontakt für Sang knüpfen zu können, erkundigte sich David: „Wie soll denn dieses ‚Etwas’ aussehen?“ – „Das wissen wir noch nicht“, antwortete Chris. Als sie davon sprach, „etwas für die Behinderten zu tun“, hatte sie nicht die Absicht, einen besonderen Job für Sang als Hilfskraft zu schaffen. Aber als sie von unserem Sohn erfuhr, entschloss sie sich sofort dazu.
Am ersten Tag seiner Probewoche machte Sang beim Spülen von ein paar Tassen und Löffeln seine Sachen klitschnass. Am zweiten Tag zerbrach er eine Tasse. Am dritten Tag veranstaltete er beim Aufwischen des Duschraums eine Überschwemmung. Am vierten Tag stapfte er über frischen Estrich und hinterließ seine Fußspuren. Am fünften Tag erhielt er seinen Wochenlohn. Nachdem er das Geld geprüft und gezählt hatte, beschloss er, am Montag wieder hinzugehen, was Donald mächtig beeindruckte. Als Arbeitszeit waren täglich anderthalb Stunden nach der Schule vorgesehen. Natürlich wäre man im Fitnesscenter auch ohne ihn zurechtgekommen. „Aber wir brauchen wirklich!“, behauptete Chris steif und fest, als wir ihr danken wollten. „Es ist für uns alle wichtig zu wissen, dass es hier auf jeden ankommt.“ – „Sie nett“, sagte Sang. „Ich nehme ihn erst einmal in den Arm, wenn er da ist“, erzählte mir Chris. „Dann kann er hinuntergehen und anfangen.“
Die Arbeit war eine Therapie für Sang, der Höhepunkt eines jeden Tages – ein Ziel, ein Grund, sich das Haar zu bürsten und Gesicht und Hände zu waschen. Es war eine Halteleine auf dem Weg in die Welt.
Nachdem er das erste Mal allein hin gefunden hatte, wollte Sang, dass wir uns dort nicht mehr blicken ließen. Er sah es als sein Revier an. Chris berichtete uns selten von irgendwelchen Pannen, davon erfuhren wir nur durch Sang. Aber sie erzählte es uns immer, wenn es etwas Gutes zu berichten gab. Nicht nur, dass er in den folgenden anderthalben Jahren nur noch gelegentlich beaufsichtigt werden musste – er führte sogar kleine Arbeiten aus, ohne dass man ihn darum gebeten hatte: reinigte einen Schrank oder wischte einen Tisch ab. Wie Chris es vorausgesehen hatte, war er ein Teil des Teams geworden.
Bei der Arbeit musste Sang lernen, sein Temperament auch dann zu zügeln, wenn ihm nicht danach war. Zu Hause gab es immer noch Zeiten, in denen er wütend oder schlecht gelaunt war. Aber das ursprüngliche Schreien und die Wutausbrüche ließen allmählich nach.
Inzwischen war Hannah in ihrem ersten Collegejahr, und wir besuchten sie. Sang sah die schönen Gebäude im Herbstsonnenlicht und das gemütliche Zimmer, das Hannah allein bewohnte. Die ganze Heimfahrt über fragte er um Auto, wann er auf die Universität könne.
„Sie lassen dich nicht“, sagte Donald ungeschminkt. „Du schaffst die Examen nicht.“ – „Hannahs College, erklärte ich Sang, „ist für Leute, die gern stundenlang Schularbeiten machen oder in der Bibliothek sitzen und lesen oder den ganzen Tag lang schreiben. So etwas magst du doch nicht, nicht wahr?“ – „Dok!“, protestiert Sang. So schmerzlich für uns die Einsicht in seine intellektuelle Beeinträchtigung war – für ihn war sie tausendmal schmerzlicher.
Sangs Schulzeit näherte sich dem Ende. Auf unserer Suche nach einem Weg zur Fortsetzung seiner Ausbildung hörten wir von einer Schule für geistig Behinderte von 16 Jahren an aufwärts. Es klang genau nach dem, was Sang brauchte, nämlich praxisnahen Unterricht: Besuche auf Bauernhöfen, in Fabriken und Museen, Ausflüge zu Kaufhäusern und Diskos, dazu Ermunterungen zum Umgang mit anderen und Anleitungen, sich korrekt zu kleiden und für sich selbst zu sorgen. Als wir mit Sang zur Aufnahmeprüfung fuhren, war er sehr nervös. Aber der Job im Center hatte ihn selbstbewusster gemacht. Er kam nun mit Menschen zurecht. Er hatte bewiesen, dass er so unabhängig wie möglich sein wollte. All das muss erkennbar gewesen sein. Als wir die Nachricht erhielten, dass er aufgenommen war und in sechs Monaten im Alter von sechzehneinhalb Jahren seine zweieinhalbjährige Schulzeit beginnen würde, feierten wir ein Fest. Es war, als hätte Sang einen Preis gewonnen – den Nobelpreis für persönliche Leistung.
Die Reise
Sang wird eine Bahnreise machen. Zweimal ist er schon mit anderen Schülern zusammen gefahren, aber noch nie allein. Er ist inzwischen 17. Diesmal ist es sein eigener Wunsch, das Kinderheim zu besuchen, aus dem wir ihn zu uns geholt hatten. Das Personal hat zwar inzwischen gewechselt, doch die Kinder sind zum größten Teil noch die gleichen. Wenn er zuvor einen Besuch dort machte, war er immer im Auto gefahren. Als er merkt, dass wir uns wegen der Bahnreise Sorgen machen, lässt seine Begeisterung nach. Von Haus zu Haus sind es nur zwei Autostunden. Mit der Bahn muss er dagegen erst nach London und dann noch zweimal umsteigen.
David und ich entschließen uns dann doch, es zu riskieren. Wir überhören Sangs Gejammer, dass er noch zu jung für eine solche Reise sei. Menschen wie er brauchen Fortschritte in kleinen, angemessenen Dosen. Ich stelle Sang ein genaues Reiseprogramm zusammen, eine Karteikarte, auf der folgendes verzeichnet ist: der Name des Reiseziels (Ascot); die Abfahrtszeit; die Endstation (Reading); Anschrift und Telefonnummer des Kinderheims; Davids Telefonnummer am Arbeitsplatz, damit Sang ihn gleich nach seiner Ankunft anrufen kann. „Und wenn du Sunningdale abgehakt hast, weißt du, dass du an der nächsten Station aussteigen musst.“
Am Morgen des Abreisetages hat Sang Sachen für drei Wochen eingepackt, obwohl er nur drei Tage bleiben will. Wir respektieren dieses Zeichen von Selbständigkeit und fragen nicht, ob er auch daran gedacht hat, die Zahnbürste, einen Schlafanzug und Socken zum Wechseln mitzunehmen.
Als wir am Bahnhof sind, verlässt ihn der Mut; er stellt sich schutzsuchend hinter mich. Ich schiebe ihn vor mir in die Schlange. Er muss es allein schaffen. „Jeder kauft seine Fahrkarte selbst“, sage ich fest. Ich würde ihn nach London bringen, aber von da aus müsse er allein weiter. Wenn Sang mit Schwierigkeiten konfrontiert wird, rollt er sich oft wie ein Igel zusammen, eine Art Winterschlaf angesichts der Anforderungen der Außenwelt. Aber auf dieser Reise bleibt er hellwach. Noch einmal gehen wir alles durch. „Du nimmst den Zug, der nach Reading fährt, obwohl du nicht die ganze Strecke bis Reading mitfährst.“
Als wir uns der großen Bahnhofshalle nähern, gerät er in Panik. Statt in meiner Nähe zu bleiben, läuft er weg. Wenn er aufgeregt ist, vergisst er gewöhnlich alles, was er weiß. „Hör zu, Sang“, sage ich. „Denk einfach an ‚reden’; Mund aufmachen und reden. Wir gehen jetzt zu einem Zug, der zu einer Stadt fährt, die so ähnlich heißt wie ‚reden’.“ – „Ja“, sagt er zögernd.“
Mir kommen Zweifel, ob er jemals in der Lage sein wird, allein zu verreisen. Um uns beiden einen Ruck zu geben, erinnere ich ihn anerkennend an das, was er bereits geschafft hat „Ist es nicht toll, fast erwachsen zu sein und ganz allein mit der Bahn zu fahren?“
„Erwachsen?“, kichert er ungläubig. „Und bald wirst du überall hinreisen, wohin du willst.“ – „Lawrence in Norwich besuchen?“, fragte er. Lawrence hat in Norwich gerade mit dem Studium begonnen. Er fehlt uns allen, am meisten aber Sang. Sangs Gepäck liegt neben ihm auf dem Sitz. Der Pfiff zur Abfahrt ertönt. Wir verabschieden uns.
Während ich mich zu dem Zug durchfrage, der mich nach Hause bringen soll, überlege ich, ob es nicht zwecklos ist, fast einen ganzen Tag damit zu verbringen, Sang in den richtigen Zug zu setzen. Ich bin erschöpft und frage mich, ob es wirklich lohnt, Sang zu mehr Mobilität zu verhelfen. Das meiste, was sich Sang wünscht, ist für ihn unerreichbar. Dem ins Gesicht zu sehen, was er kann und was er nicht kann, erfordert von ihm viel Mut. Bemerkenswert ist das positive Art, in der er mit sich zurecht-kommt, sein Schicksal akzeptiert und sich so nimmt, wie er ist. Er weiß jetzt, dass er Rechte hat und innerhalb der Grenzen dessen, was möglich ist, auch Freiheit.
Noch immer bedrückt von den Sorgen, die er uns macht, treffe ich zu Hause ein und höre, dass er gut angekommen ist. Ich triumphiere vor Stolz! Und bin all den Engeln dankbar, die in Gestalt von Mitmenschen bei seiner ersten Fahrt ein Auge auf ihn hatten.
Vertrauen lernen
„Haben Sie noch immer den Jungen, den Sie damals angenommen haben?“, wurden wir neulich gefragt. Natürlich haben wir ihn noch. Adoption heißt nicht nur freie Kost und Logis bis zum Erwachsensein. Sang gehört zu uns, heute und für alle Zeit. Wenn Fremde fragen, wieweit die Adoption den eigenen Kindern zu schaffen gemacht habe, dann gehen sie von der törichten Annahme aus, David und ich hätten unseren Kindern ein Leid zugefügt, indem wir einen Fremden in die Familie aufgenommen haben. Lawrence sagte einmal: „Ich verstehe überhaupt nicht, was die für ein Theater darum machen. Sang ist bei uns, und das ist das Einzige, was zählt, oder?
Heute sind die drei Jungen fast erwachsen, die Große ist Anfang 20. Sie zanken und vertragen sich, sie necken und bekriegen sich, sind zärtlich zu und eifersüchtig aufeinander und lachen über Scherze, die nur sie verstehen – wie eben alle Geschwister.
Sangs Bedürfnis, „seine Geschichte“ erzählt zu bekommen von dem kleinen Jungen, der verlassen in Saigon gefunden und von uns adoptiert wurde, hat nachgelassen. Wenn er heute von Fremden nach seiner Herkunft gefragt wird, gibt er selbstbewusst eine kurze Auskunft und verweist hartnäckige Frager an uns. Als wäre es ihm recht, dass wir, seine Familie, auch die Hüter seiner Vergangenheit sind. „Aber wie soll das weitergehen?“, fragen die Leute. „Denken Sie denn auch an die Zukunft?“ Ja, wir denken daran, sorgen uns und beten, dass es Sang gut gehen möge. Wenn er erwachsen ist, endet unsere Verpflichtung ihm gegenüber nicht. Wir stehen vielmehr erst am Anfang. Sang hat lernen müssen, uns zu vertrauen. Auch wir lernen zu vertrauen: unserem Schöpfer, der uns liebt, ebenso wie er die Waisen und alle seine anderen Geschöpfe liebt.
Die Auslegung können Sie als PDF-Datei herunterladen:
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Weiterführende Links:
› Auslegung der Jahreslosungen
› Geschenke und mehr mit dem Jahreslosungsmotiv
› Die Losungen für jeden Tag
Literaturhinweise
- www.logo-buch.de